EINE GESCHICHTE VON TONYETTLIN

 

Die Stammtischrunde hatte die aktuelle Weltlage gründlich analysiert, bewertet und kommentiert. Man war sich einig, dass Putin ein hinterhältiger Lügner sei, dem man alles zutrauen müsse, aber dass er schlussendlich verlieren werde, weil das Volk nicht dumm sei und irgendeinmal das tägliche Essen über die ganze Ideologie stellen werde. Die Klimakrise war abgehakt, die Fridays-for-Future-Jungen als idealistische Träumer eingeordnet, die zwar für die richtigen Ziele kämpften, aber mit den falschen Mitteln. Man war sich auch einig, dass im nächsten Winter immer Strom aus der Steckdose fliessen werde, da die Stauseen zu fast neunzig Prozent voll seien und der Bundesrat schon dafür sorgen werde, dass die Radiatoren warm blieben, man habe ja immer noch die AKWs, die man länger laufen lassen könne und die Axpo wolle doch weiterhin Geld verdienen.
Als Dorli die dritte Runde Bier servierte, trat eine kurze nachdenkliche Stille ein, als würden sich alle überlegen, ob sie in ihrer Weltanalyse nicht einen entscheidenden Faktor vergessen hätten. Da platzte Willy in die Stille:
«Glaubt Ihr eigentlich an den Weltuntergang?»
Seine fünf Kollegen schauten ihn an, als hätte er gefragt, ob die Erde eine Scheibe sei.
«Natürlich wird die Welt irgendwann untergehen», knurrte Hanspeter. «Aber das werden wir zum Glück nicht mehr erleben. Das überlassen wir unseren Nachkommen.»
Bruno und Kaspar nickten und wischten sich den Schaum vom Schnauz. Kuno zog die Schultern hoch.
«Wie sollen wir das wissen? Wenn es so weit ist, dann passiert es halt.»
«Ich hatte gestern Besuch von zwei bärtigen Typen in langen Mänteln», fuhr Willy fort. «Zeugen Jehovas oder so eine Sekte. Sie haben etwas von den letzten Tagen geschwafelt. Ich war gerade allein zuhause und habe ihnen ein Bier offeriert, aber sie wollten nur Kamillentee.»
«Mit Kamillentee kann man die Welt retten». Oski war immer für einen träfen Spruch gut.
«Sie haben einen alten Kalender der Mayas auf den Tisch gelegt, nach dem der Weltuntergang eigentlich am 21. Dezember 2021 hätte stattfinden sollen, aber Gott habe uns bis zum Mai noch einen Aufschub gewährt. Eine letzte Chance sozusagen.»
«Ja, ja,» spottete Bruno. «Das haben wir schon als Jugendliche gesungen.» Er lehnte sich zurück und sang: «Mier läbid ja nimme so lang, mier läbid ja nimme so lang! Am driizähnte Mai isch der Wältundergang.» Alle lachten und nahmen einen tüchtigen Schluck. Nur Willy blieb ernst.
«Sie haben mir dann aufgezeigt, dass es 15 Hinweise gäbe, die einen baldigen Weltuntergang wahrscheinlich machten.»
«Du glaubst doch nicht an so einen Humbug!» Kaspar schüttelte heftig den Kopf.
«Nein, natürlich glaube ich das nicht!», verteidigte sich Willy.
«Aber die Faktoren, die sie aufzählten, erschienen mir sehr real, die Pandemie, eine allgemeine Verlotterung der Moral, eine zunehmende Polarisierung der Positionen, die Klimakrise, der Meteor, den die Nasa abschoss, um seine Flugbahn zu ändern….» Er brach ab, als er merkte, dass seine Kollegen taten, als wüssten sie das alles schon.
«Eben, der Nasa-Abschuss hat doch gezeigt, dass man sich gegen einen Meteor wehren kann.» Kaspar war bekannt für seinen Glauben an die Wissenschaft und die Technik.
«Und? Haben sie ein neues Datum genannt, wann das geschehen soll?», versuchte Kuno, die Diskussion weiterzuführen.
«Nein, man sei noch am Berechnen. Aber der Maya-Kalender sage eindeutig ein baldiges Ende voraus.»
«Und, was haben die Propheten empfohlen?», wollte Hanspeter wissen.
«Sie haben mir ein Pamphlet in die Hand gedrückt, in dem steht, was man machen müsse, um zu den 144’000 Auserwählten zu gehören, die den Untergang überleben werden.»
«Den Weltuntergang überleben? Was soll denn das?» Bruno kratzte sich in seinem ausgelichteten Haar. «Wo sollen wir denn leben, wenn es die Welt nicht mehr gibt? Irgendwo im Weltall?»
«Sie sprechen von einem Leben in einer anderen Dimension. Etwas, das wir mit unserem Verstand nicht erfassen könnten.» Willy spürte, dass er sich auf dünnes Eis bewegte.
«Natürlich glaube ich das alles nicht. Aber was ist, wenn sie doch recht bekommen? Auf jeden Fall habe ich schon mal begonnen, ein paar Sachen zu ordnen. Ich will ja nicht ein grosses Chaos hinterlassen, wenn es dann so weit ist. Und den beiden habe ich ein Zwanzigernötli in die Hand gedrückt, als sie gingen, quasi als Anzahlung für einen Platz bei den Auserwählten.»
Er erntete von seinen Kollegen nur Kopfschütteln und hämisches Grinsen, aber das war er sich gewohnt.
«Es ist Zeit. Ich muss nach Hause. Dorli, zahlen!»
Bruno holte sein Portemonnaie hervor. In dem Moment zuckte ein Blitz durch die Gaststube und ein gewaltiger Donnerschlag liess die Gläser klirren. Die Runde erbleichte. Draussen setzte sintflutartiger Regen ein.
«Hoppla, das Gewitter, das die Wetterfee angesagt hat», überspielte Oski seinen Schreck. «Oder ist das der Vorbote für das nahende Ende?»
Beim Hinausgehen packte Kuno Willy am Arm und flüsterte ihm ins Ohr:
«Kannst Du mir das Büchlein mal ausleihen, das Dir die Propheten gegeben haben?»