EINE GESCHICHTE VON ISABELLE LEUTENEGGER

 

Roswitha sitzt am Tisch in ihrer Küche. Gedankenverloren rührt sie in ihrem Kaffee und hält ihre linke Hand vor sich ausgestreckt, damit sie ihre lackierten Fingernägel betrachten kann. Flammend rot lackierte Fingernägel! Unglaublich das wäre vor sechs Monaten noch unvorstellbar gewesen. Sie nimmt einen Schluck Kaffee, der neuerdings aus einer blauen Nespresso Maschine kommt. Filterkaffee war gestern! Roswithas Gedanken schweifen zurück zu der Zeit, wo ihr Leben nicht farbig war. Wie ein Film durchlebt sie jede Szene des besagten 29. März 2022 nochmals.

Bis zu jenem Tag plätscherte ihr Leben dahin. Ihre Arbeit als Sekretärin war angenehm unspektakulär, wie auch ihr Eheleben. Die Gravur im Ehering bezeugte die zwanzigjährige Ehe mit Hermann, einem genügsamen und liebenswürdigen Mann. Langeweile kannte sie keine, da sie nicht wusste, was das Gegenteil war.

Die Aussicht auf einen geregelten Tagesablauf unter der Woche beruhigte Roswitha jeden Sonntagabend. Um sechs Uhr in der Früh klingelte der Wecker. Sie duschte, cremte sich mit Nivea ein und bereitete das Frühstück zu. Hermann bekam ein Weggli, zwei Scheiben Schinken, wenig Butter und eine Tasse Kaffee. Sie ass zwei Stück Wasa-Knäckebrot mit zwei Teelöffelchen Hüttenkäse. Anschliessend ging jeder seiner Arbeit nach. Abends um achtzehn Uhr assen sie Abendbrot; montags Linseneintopf mit Würstchen, dienstags Fleischkäse mit Kartoffelsalat, mittwochs Hackbraten mit Kartoffelpüree, donnerstags Toast Hawaii mit Salat, freitags Lachs mit Salzkartoffeln. Samstags und sonntags war sie spontan und kochte, was in der Migros Aktion war. Einmal im Monat gönnten sie sich ein Essen im Restaurant.

Nach dem Abendessen begann jeweils der gemütliche Teil des Tages — gemeinsames Fernsehen. Manchmal fragte Hermann, ob sie einen Programmwunsch hätte. In der Regel überliess sie ihm gerne die Wahl. Ab und an wünschte sie sich nach einem Rosamunde-Pilcher-Film, dass ihr Leben etwas aufregender wäre. Doch diese verwegenen Gedanken schob sie schnell beiseite.

Jeden zweiten Samstag oder Sonntag wuchs nach dem Frühstück ihr Unwohlsein, — sie lauerte geradezu auf Hermanns Frage: «Roswitha, wohin möchtest Du gerne wandern gehen?»
Akkommodabel wie Roswitha war, brachte sie diese nette Geste immer wieder aus dem Gleichgewicht. Zum Glück hatte Hermann stets eine Idee für alle Fälle parat.

Eines Tages änderte sich etwas in Roswithas Leben. Hätte man sie im Nachhinein gefragt, wann alles angefangen habe, hätte sie mit den Schultern gezuckt. Eine Unruhe, die sie noch nicht verstand, hatte sie erfasst. In der Nacht raste ihr Herz. Um zwei Uhr morgens lag sie wach, — Baldriantropfen nutzten nichts. Tausend Gedanken stahlen ihr die Nachtruhe.
«Verflixt! — Was ist nur mit mir los? — Ich verstehe mich selbst nicht mehr! Mein Leben langweilt mich, meine Ehe auch! Was soll ich tun?«, flüsterte sie sich leise hinter der geschlossenen Badezimmertür zu.

Kurze Zeit später, eben am vergangenen 29. März 2022, brachte der jährliche Untersuch beim Frauenarzt Licht ins Dunkel. «Alles in bester Ordnung Frau Thiel. Sie sind in der Menopause!», nuschelte Doktor Huber unter seinem Mundschutz.
Früher wäre sie zufrieden gewesen mit dem ersten Teil der Aussage. Eigenartig, dieses Wort Menopause weckte ihr Interesse. Beim Verlassen der Arztpraxis überschlugen sich ihre Gedanken. In ihrem Hirn explodierte eine Tischbombe, gefüllt mit spannenden Einsichten. Die Parkbank gegenüber der Arztpraxis im Blick überquerte sie schnellen Schrittes die Strasse. Laut murmelnd sammelte sie die Erkenntnisse ihrer geistigen Tischbombe auf:
Die Worte flossen förmlich aus ihr heraus: «Genau jetzt habe ich es kapiert! — Menopause gleich Leben meno Pause, aha, Leben minus Pause. Die verdammte Pause in meinem Leben, auch die in meinem Eheleben muss ein Ende haben. Ist doch klar, Menopause gleich Wechseljahre. So ist es, Wechsel sind jetzt angesagt, und zwar gleich, ab sofort…. — Wie wird Hermann wohl reagieren? Egal, auch ihm wird das guttun!»

Einer Raubkatze gleich sprang Roswitha von der Bank auf. Beherzt ging sie ins nächste Friseurgeschäft, danach ins Modehaus. Die rassige Kurzhaarfrisur mit den vereinzelten Silberfäden gaben ihrem immer noch hübschen Gesicht das gewisse Etwas. Das neue Kleid, in gewagtem Rot, eine Nummer grösser als vor 3 Jahren, umschmeichelte ihre neue Taille. Anschliessend besuchte Roswitha mutig ein schickes Café und gönnte sich ein Stück Sachertorte. Zu guter Letzt besorgte sie das Abendessen für diesen Dienstag. Sie fühlte sich wie Indiana Jones, wenn er nicht gerade als Lehrer arbeitete.

«Keinen Fleischkäse mit Kartoffelsalat wie immer dienstags?», fragte Hermann, als er abends nach Hause kam.
«Nein, ich hatte Lust auf Cordon bleu mit Ofengemüse.», gab Roswitha mit leuchtenden Augen selbstbewusst zurück.
Hermann zog eine Augenbraue hoch, rieb sich die Hände. «Na das nenn ich eine Überraschung, toll!», und setzte sich erwartungsvoll.
Roswitha drehte sich um, ging mit den schön hergerichteten Tellern auf Hermann zu und sagte: «Kommenden Sonntag möchte ich übrigens gerne auf dem Zugerberg wandern.»
Unvermittelt hob Hermann den Blick. Er wirkte entgeistert und fasziniert zugleich. Sie war sich sicher, dass er sich fragte, was geschehen war. Das allerdings würde ihr Geheimnis bleiben. In seinen Augen erkannte sie, dass ihm gefiel, was er sah. Nach einer Weile meinte er verlegen lächelnd: «Gute Idee mit dem Zugerberg. Anschliessend essen wir eine Kleinigkeit auf der Terrasse des Vordergeissbodens. Da waren wir schon ewig nicht mehr.»
«Dann haben wir ja quasi ein Date!», sprudelte es übermütig aus Roswitha. Das erste seit gefühlten hundert Jahren rauschte es durch ihren Kopf.
War da ein leichtes Flirren in der Luft? Hermann strahlte sie an. Roswitha erlebte ihre erste Wallung. Egal, mit leicht glühenden Wangen himmelte sie ihren Hermann an.

«Heute trinken wir mal wieder einen Piccolo zum Fernsehen, was meinst Du?»
Roswitha nickte schnell und seufzte zufrieden.
Beim Abspann des Rosamunde-Pilcher-Film mit dem Titel ‘Aussicht auf ein neues Leben’ war auch ein zweiter Piccolo geleert. Roswitha rückte zu Hermann rüber, legte den Kopf an seine Schulter. An jenem Abend nahm das Leben von Roswitha und Hermann wieder Fahrt auf, auch nach dem Lichterlöschen.