EINE GESCHICHTE VON TONYETTLIN
Vorgabe: Latzhosen, Papierkram und Klopfgeräusche
Clara holte den Putzwagen aus dem Materialraum im Untergeschoss des Bürogebäudes und fuhr mit dem Lift in die dritte Etage. Sie wusste, dass die Mitarbeitenden der Schadenabteilung vor sechs Uhr Feierabend machten. Sie hatte zuhause eine Früchtewähe gegessen, den Ingwertee getrunken, der ihr die nötige Energie gab, ihre blaue Latzhose angezogen, ihr langes Haar hochgebunden und mit einem dunkelroten Schal eingepackt. Beim Kontrollblick in den Garderobespiegel hatte sie sich zugezwinkert: «Bereit für die Nachtschicht!» Ihr Arbeitsalltag in der Migrosfiliale langweilte sie. Während sie Gestelle auffüllte, Fragen von Kundinnen beantwortete, die etwas suchten und im Lagerraum Leergut sortierte, freute sie sich auf ihre Nachtschicht.
Monatelang hatte sie das Verwaltungsgebäude der Versicherung beobachtet, um herauszufinden um welche Zeit die Mitarbeitenden das Haus verliessen. Die Dame an der Reception räumte um 17.00 h ihren Arbeitsplatz. Bis 18.30 h blieb die Eingangstüre offen, so dass sie reinschlüpfen konnte. Die Frauen und Männer, die ihr begegneten, kannten die Putzfrau mit dem roten Kopftuch und den Latzhosen, grüssten sie freundlich und wünschten ihr einen schönen Abend. Clara hatte herausgefunden, dass die andere Putzfrau jeweils am Dienstag und Freitag arbeitete. Montag und Mittwoch waren Claras Tage. Sie liebte es, den Putzwagen durch die leeren Gänge zu schieben, an die Türen zu klopfen, bevor sie sie öffnete, die trockene Büroluft einzuatmen und sich vorzustellen, was die Leute den ganzen Tag machten. Ab und zu überraschte sie einen Mitarbeiter bei der Arbeit, entschuldigte sich, lächelte und sagte in gebrochenem Deutsch: «Komme später!» In den leeren Büros schloss sie die Türe hinter sich, setzte sich in den Bürostuhl auf Rädern, studierte den Papierkram, der auf dem Pult oder in den Ablagefächern lag, stiess sich mit dem Fuss vom Pult ab und genoss die Drehung wie auf einem Karussell. Besonders die Winterabende, wenn es draussen eindunkelte, hatten eine spezielle Magie. Sie sass im Dunkeln, lauschte den Geräuschen, die aus den oberen Etagen durch die Decke drangen, folgte den teppichgedämpften Schritten und versuchte herauszufinden, wohin sich die Menschen bewegten. Manchmal drangen Wortfetzen oder kurze Lacher zu ihr.
Nach neunzehn Uhr wurde es ruhig. Es war Zeit, in die Direktionsetage hinaufzufahren. Der Gang über den dicken Teppich und das Gefühl, dass hier die wirklich wichtigen Leute arbeiteten, steigerte ihre innere Aufregung. Das war der Kick, den sie brauchte und auf den sie sich den ganzen Tag gefreut hatte. Ehrfurchtsvoll las sie die Namensschilder an den Türen mit den eindrücklichen Titeln. Die meisten Büros waren abgeschlossen. Nur Vizedirektor Grunder, Head Corporate Communication, schloss nie ab. Clara schob ihren Putzwagen in den Raum, stellte ihn direkt hinter die Türe, für den Fall, dass plötzlich doch jemand auftauchte. Das würde ihr eine Sekunde Reaktionszeit geben. Sie setzte sich in den hochlehnigen Ledersessel, zog die Schuhe aus und streckte ihre Beine auf den Schreibtisch. «So fühlt man sich also als Direktorin!» schmunzelte sie. Sie schaute sich in dem Büro um, das eher wie eine Suite eines Hotels eingerichtet war. Es gab kein Regal mit Ordnern, wie im unteren Stock, kein Papier lag auf dem Schreibtisch. Auf dem gläsernen Salontisch standen immer frische Blumen. An der gegenüberliegenden Wand hing über dem roten Sofa ein abstraktes Gemälde in Pastellfarben. Clara versuchte herauszufinden, was es darstellen sollte, brachte die Kleckse und Figuren aber zu keinem verständlichen Bild zusammen.
Sie liess ihren Blick durch die Fensterfront in die Nacht hinausschweifen, wo die Lichter der Stadt angingen, als sie plötzlich Schritte hörte und ein Knacken, als würde jemand den Schlüssel im Schloss drehen. Mit einem Satz stand sie bei ihrem Putzwagen. Das Blut schoss ihr in den Kopf. Ihr Herz raste. Die Schritte entfernten sich. Clara blieb wie versteinert stehen. Nach einer Weile wagte sie es, die Türklinke zu drücken. Eingeschlossen!
Clara machte sich mit ein paar derben Flüchen Luft. Das, was sie sich immer wieder vorgestellt hatte und was ihr den erwünschten Kick gab, war eingetroffen. Eine Mischung aus Panik und Euphorie überschwemmte sie. Sie lachte und weinte gleichzeitig, setzte sich wieder in den Direktionssessel und überlegte: «Was nun?» Um zehn Uhr würde der Nachtwächter kommen, der sie jeweils durch die Hintertüre rausliess. Er begrüsste sie immer mit einem kollegialen Augenzwinkern, als wüsste er, dass sie keine normale Putzfrau war und er Interesse an einem Flirt hätte. Sie schenkte ihm immer ein Lächeln. Wenn er sie nun in Grunders Büro antreffen würde, konnte er nicht anders als den Vorfall melden. Das würde das Ende ihrer Nachtschicht sein und vermutlich ihrer Anstellung bei der Migros.
«Soll ich mit Klopfgeräuschen auf mich aufmerksam machen?» Aber es war ja niemand mehr im Haus. Clara tigerte im Büro herum auf der Suche nach einem Ausweg. Sie hatte ihr Handy zuhause gelassen. Es blieb ihr nichts anderes übrig als auf den Nachtwächter zu warten, in der Hoffnung, dass er sie nicht anzeigen würde. Als Belohnung käme er zu seinem Flirt.
«So hast du es gewollt!» schalt sie sich im Ledersessel des Head Corporate Communication. Eine teuflische Freude brachte sie zum Lachen. «Immer noch besser als in der Migros Gestelle auffüllen!»
Plötzlich hörte sie Schritte und flüsternde Stimmen. Ein Schlüssel wurde ins Schloss geschoben. Clara sprang auf, schlüpfte in ihre Schuhe und stand hinter dem Putzwagen als die Türe aufging. Ein gutaussehender Mann mit Anzug und Krawatte starrte sie an. Hinter ihm tauchte eine junge Frau mit rotgeschminkten Lippen und einem erröteten Gesicht auf.
«Was tun Sie denn in meinem Büro?» fuhr Vizedirektor Grunder sie an.
«Entschuldigung!» stammelte Clara. «Ich habe geputzt, als die Türe abgeschlossen wurde. Ich habe nichts angerührt!» Die Röte, die ihr ins Gesicht schoss, musste den ganzen Raum beleuchten. Auch Grunders Gesicht lief rot an.
«Tut mir leid. Ich wusste nicht, dass sie drin waren. Ich muss nur noch ein paar Unterlagen holen,» stotterte er, als müsste er sich rechtfertigen. Die Frau konnte ihr Grinsen nicht verbergen.
Clara nickte, schob ihren Putzwagen an den beiden vorbei und steuerte den Lift an, der sie ins Untergeschoss bringen würde. Dort wollte sie auf den Nachtwächter warten und ihn fragen, ob er mal Zeit für einen Drink hätte. «Ich brauche einen neuen Kick!»