EINE GESCHICHTE VON ISABELLE LEUTENEGGER
Meine Oma Klara hatte sich für den Umzug in eine Altersresidenz entschieden! Zuerst konnte ich es kaum fassen. Klar, sie war mittlerweile 92 Jahre alt. Wer sie jedoch sah, hätte die lebenslustige Frau auf höchstens 75 geschätzt. Sie besass ein gepflegtes Äusseres und kleidete sich sportlich-elegant. Meine Mutter Brigitte und ich mussten sie alle drei bis vier Monate zum Kleidershoppen begleiten. Es mochte komisch klingen, aber ich genoss diese Mädelsnachmittage, wie Oma sie zu pflegen nannte. Meistens gingen wir zum Abschluss des Tages bei Omas Lieblingsitaliener, den sie seit vierzig Jahren kannte, vorbei. Bei einem Glas Rotwein führten wir politische wie auch philosophische Gespräche. Oma hatte immer noch einen bemerkenswert wachen Geist und war höchst interessiert am Weltgeschehen.
An eben einem solchen Nachmittag eröffnete sie uns, dass sie jetzt in eine Seniorenresidenz ziehen werde. Sie bestellte uns allen ein zweites Glas Rotwein, nahm eine sehr aufrechte Haltung an und erklärte freudestrahlend:
«Es ist an der Zeit, denn ich habe keine Lust mehr aufs Treppensteigen und in einem so grossen Haus alleine zu leben. Ich brauche Gesellschaft. Einige Häuser habe ich mir bereits angeschaut und mich für das Augustinum entschieden. Dieses gepflegte Haus liegt etwas ausserhalb Meersburg. Es bietet ein facettenreiches kulturelles und soziales Leben. Sogar ein eigenes Kulturreferat organisiere das anspruchsvolle Programm, das unter einem jährlich wechselnden Motto stehe – 2022 laute es „unterwegs“. Das ist genau mein Ding! Zudem bin ich doch in meinem Leben auch viel unterwegs gewesen». Oma nahm einen kräftigen Schluck Rotwein. Ihre Augen blickten aus dem Fenster in die Ferne, als sie fortfuhr: «Ach, ich denke da an all die Reisen mit meiner Mutter Ottilie nach Afrika. Ihr erinnert euch, deine Oma», sie blickte zu meiner Mutter, dann an mich gewandt: «Deine Uroma Ottilie hatte einen Teil ihrer ersten Ehejahre im ehemaligen Deutsch-Ostafrika, heute Tansania verbracht.»
Wie hätten wir das je vergessen können, Oma sprach oft über diese Zeit. Uroma Ottilie und Oma hatten Afrika geliebt. Mehrmals hatte sie uns erklärt, dass es nur zwei Wege gebe, Afrika heiss zu lieben oder überhaupt nicht zu mögen.
Obwohl wir die Beweggründe ihrer Entscheidung in eine Altersresidenz zu gehen nachvollziehen konnten, waren Mutter und ich verblüfft und stolz zugleich. Ihr so etwas auszureden hätte eh keinen Sinn gehabt. Also stiessen wir auf den kommenden neuen Lebensabschnitt an und wollten wissen, wann der Umzug stattfinden solle. Oma meinte auf den ersten Mai. Da wäre es so schön im Garten des Augustinum, die Leute würden wieder aus ihren kleinen Wohnungen gehen und sie könnte ein kleines Einweihungsfest ausrichten. Typisch Oma, das Leben auskosten — recht hatte sie.
So kam es, dass Mutter und ich das Haus von Oma ausräumten. Ihre Lieblingsmöbel hatte sie mitgenommen, darunter war auch ein Holzsessel aus Ebenholz, ein Relikt aus der Zeit von Uroma Ottilie aus Tansania. Oma trug uns auf alles, was wir nicht wollen würden, einer gemeinnützige Organisation zu übergeben.
Mutter und ich waren bereits den zweiten Tag daran, das Haus vom Keller bis zum Dachboden auszumisten. Wir waren beinahe fertig, bis auf einen Schrank. Wir öffneten ihn und fanden Damenkleider aus den 1910er-Jahren, lange Röcke und langärmlige Blusen aus weisser Baumwolle. Das müssen wohl Kleider von Uroma Ottilie sein, dachte ich mir. Mein Blick wanderte nach oben. Da traf mich beinahe der Schlag, ich erwartete Hüte, doch ich erblickte etwas Tierisches!
«Igitt Mama, was um Himmelswillen ist denn das?», brach es schrill aus mir heraus.
Mutter hob das Etwas vorsichtig herunter. — Es handelte sich um eine Handtasche aus Krokodilleder! «Grässlich, das Ding schmeissen wir aber sofort weg!», meinte ich energisch. Meine Mundwinkel zeigten nach unten und ich machte eine wegwischende Handbewegung.
«Mach mal halblang!». Lass uns zuerst in die Tasche schauen. Wer weiss, was da noch drin ist?», gab Mama sanft lächelnd zurück.
Typisch, das schwäbische Blut meiner Mutter ist einfach nicht zu verleugnen. So gingen wir mit dem für mich skurrilen Fund ins Wohnzimmer und setzten uns aufs Sofa. Die Tasche hatte eine rechteckige Form, die oben von einem Bügel gehalten wurde. Der goldfarbene Verschluss hatte gelitten, Teile der Farbe waren abgeblättert. Das Krokodilleder musste einmal dunkelbraun eingefärbt gewesen sein, nun wies es helle Stellen auf.
«Für die damalige Zeit war diese Tasche ein Juwel. Es ist mir schon klar, dass das für dich unverständlich ist.», erklärte mir Mama.
Ganz langsam und vorsichtig öffnete sie die Tasche. Diese war leer bis auf eine von Hand geschriebene cremefarbene Karte. Darauf stand in schöner Sütterlinschreibschrift:
Für meine geliebte Frau Ottilie zum ersten Hochzeitstag. Danke, dass du mit mir nach Tansania gekommen bist.
Datiert war die Karte auf 10. Juni 1916.
Mir wurde warm ums Herz. Ich schaute zu meiner Mutter und wusste sofort, ihr ging es ähnlich. Wir lächelten berührt und waren uns beide unausgesprochen einig. Diese Tasche gehörte zu unserer Familiengeschichte. Wir würden sie zu Oma bringen. Nur sie würde entscheiden können, was mit ihr geschehen sollte.
Am nächsten Tag besuchten wir Oma im Augustinum. Zufrieden sass sie in ihrer neuen Zweizimmerwohnung und war beschäftigt mit dem Schreiben von Einladungskärtchen für ihr Einweihungsfest.
«Gut, dass ihr da seid», empfing sie uns. «Ich habe mir überlegt, dass ich meinem kleinen Fest ein Motto geben werde. Es soll lauten: Unterwegs in Afrika. Was meint ihr dazu?», fragte sie, obwohl wir wussten, dass das Motto nicht mehr veränderbar sein würde.
Mit einem Augenzwinkern schaute ich zu Mama rüber. Sie nickte und ich kramte die Krokodiltasche aus meinem Rucksack.
«Oma, wir bringen dir hier das genau richtige Utensil für deine Party.» Ich schwenkte die Tasche vor Oma hin und her. «Diese Tasche war ein Geschenk deines Vaters an deine Mutter. Und sie ist aus Tansania. Wir haben sie in einem Schrank auf dem Dachboden gefunden, sogar eine handgeschriebene Karte fanden wir darin»
Omas blaue Augen leuchteten, ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. Langsam stand sie auf, kam auf mich zu und nahm mich in den Arm.
«Danke, vielen Dank. An dieses wunderbare Familienstück habe ich gar nicht mehr gedacht.» Oma nahm die Krokodiltasche in die Hand und bestaunte sie von allen Seiten. Ich meinte kleine glitzernde Freudentränen in ihren Augen zu erkennen. Schnell wischte sie sich die Augen und verordnete mit fester Stimme:
«Darauf genehmigen wir uns ein Glas Prosecco!», sagte es und ging zügigen Schrittes in ihre neue Küche.
Die Einweihungsfeier wurde ein voller Erfolg. Nicht wenige Damen begegneten dem Krokodil an Omas Arm und bestaunten es.