EINE GESCHICHTE VON TONYETTLIN

 

Vorgabe: Kratzen Beissen Glück gehabt

 

Glück habe ich so oft gehabt im Leben, das geht auf keine Kuhhaut und wenn ich Kuhhaut sage, dann meine ich die Haut von Kühen aus der Zeit als Kühe noch Kühe waren, also vor der Kuhhorn-Initiative, die in der Verfassung festschreiben wollte, dass der Bundesrat dafür sorgen müsse, dass die Kühe noch Hörner tragen, gross und mächtig, elegant geschwungene wie dieses Prachtsexemplar von einer Kuh, oder vielleicht war es gar ein Stier. Mir fehlte die Zeit, das zu klären, damals als ich mit meinem Neffen Tobias in der Toskana, wo wir in einer Locanda Ferien machten, am frühen Morgen bevor die toskanische Sonne zu brennen begann, losjoggte und im lockeren Lauf einen Weidezaun übersprang und dabei nicht realisierte, dass wir in das Reich dieses prächtigen Tiers eindrangen, das mindestens doppelt so gross war wie alle Kühe oder Stiere, die ich bisher in meinem Leben gesehen hatte.

Wir sahen den Stier, es war wirklich einer, plötzlich etwa zwanzig Meter vor uns, schnaubend mit gesenktem Kopf und einem Blick, der eher Feindschaft als Freundschaft ausdrückte. So viel Italienisch verstanden wir, konnten aber, da es noch früh am Morgen war und wir erst am Warmlaufen waren, nicht genau deuten, was er uns sagen wollte. Zur Sicherheit und um diese Frage zu klären verlangsamten wir unseren Lauf zu einem zögerlichen Trab. Das genügte dem Stier offensichtlich nicht. Er senkte den Kopf, wie es diese Tiere tun, wenn sie eine Angriffslust verspüren, schnaubte noch ein paar unverständliche Warnungen und setzte seine ganzen sechs- bis siebenhundert Kilo Lebendgewicht in Bewegung. Tobias, der schon immer ein Talent hatte, einen Ausweg aus einer ausweglosen Situation zu finden, sprang mit ein paar grossen Sätzen zum naheliegenden Waldrand und verschwand im Gebüsch, während ich, der ich eher einen Hang habe zur heldenhaften Konfrontation, komme ich doch aus dem Winkelrieddorf, fixierte die Augen des heranbrausenden Stiers, um zu sehen, ob ich in seinem Blick eine Spur von Sanftheit und Verhandlungsbereitschaft feststellen konnte. Konnte ich aber leider nicht, so dass ich mich gezwungen sah, meine Strategie sekundenschnell der neuen Lage anzupassen. Ich streckte meine Arme aus, griff nach dem linken wie oben beschriebenen Horn, das in der Laufrichtung des Tiers natürlich das rechte war, packte das Horn, spürte die glatte Oberfläche, die mich an Elfenbein erinnerte oder an das Horn des Helmibläsers, der bei der Nidwaldner Landsgemeinde jeweils den Zug der Stimmberechtigten anführte, direkt vor den Regierungsräten, dem eingeladenen Bundesrat und der ehrwürdigen Geistlichkeit, aber hinter der Feldmusik, die einen flotten Marsch spielte auf dem Weg zum Landsgemeindering in Will an der Aa, führte also dieses Horn mit aller Kraft an mir vorbei, während ich eine elegante Seitwärtsbewegung ausführte, wie ich sie bei den Stierkämpfern in der Arena in Spanien gesehen hatte. Ich roch den Schweiss des wütenden Tieres, das mich fast streifte und nach ein paar weiteren Galoppsprüngen verdutzt stillstand. So etwas hatte es offensichtlich in seinem Stierleben noch nie erlebt. Ich nutzte den Moment der Unentschlossenheit meines Gegners und folgte mit ein paar grossen Schritten, mit denen ich versuchte winkelriedsche Gelassenheit vorzutäuschen, meinem Neffen ins Unterholz, wo wir unsere morgendliche Joggingrunde fortsetzten. Ich wusste damals schon, dass mir diese Geschichte niemand glauben würde, so wahr sie auch ist und so gut ich sie erzählen würde. Deshalb habe ich sie bis heute nur wenigen mir nahestehenden Menschen erzählt, von denen ich wusste dass sie mir wohlgesinnt sind und die meinen Heldenmut kennen.

Jahrzehnte später passierte mir etwas Ähnliches, als ich auf dem Mountainbike nach einer Fahrt ins Fextal in flottem Tempo die letzte Kurve vor dem Hotel Waldhaus ansteuerte, ein seltsames Hupen hörte, das mich einen kurzen Moment an das Schnauben des Stiers in der Toskana erinnerte und plötzlich den silbrig glänzenden Kühlergrill eines Lastwagens vor mir sah. Da der Lastwagen keine Hörner hatte, mit denen ich ihn an mir vorbei hätte schieben können, zog ich mit aller Kraft an beiden Bremsen. Das Rad stellte sich quer, ich liess die Bremsen los, riss den Lenker herum, das Rad schwenkte wieder in die Fahrtrichtung, ich sah kurz das Gesicht des Lastwagenfahrers hoch oben in der Kabine, dessen Blick mich an den verdutzten Ausdruck des Stiers in der Toskana erinnerte, konzentrierte mich dann aber sofort auf die Abwasserrinne, die sich vor mir zwischen den riesigen Rädern des Lastwagens und der Trockenmauer, die die Strasse auf der Bergseite begrenzte, auftat, gerade breit genug, dass der Lenker weder am Lastwagen noch an der Mauer hängenblieb und hatte den Lastwagen passiert, der unnötigerweise stoppte. Ich konnte leider nicht zurückschauen, sonst hätte ich gesehen, wie der Fahrer sich aus der Kabine gelehnt hätte um nachzusehen, wo der Velofahrer geblieben ist, den er glaubte gesehen zu haben.
So kam ich heil in Sils an und wusste, dass mir auch diese Geschichte niemand glauben wird, genau so wenig wie die ebenso wahre Geschichte des Stierkampfs in der Toskana.

Aber, was wollte ich eigentlich erzählen? Ach, ja; soviel Glück gehabt im Leben, dass es auf keine Kuhhaut geht, die Kurve oft noch knapp gekratzt, so dass ich nicht ins Gras beissen musste, und wie meine Grossmutter zu sagen pflegte: „Wenn’s juckt und kratzt und beisst, hilft Klosterfrau Melissengeist.“