EINE GESCHICHTE VON ISABELLE LEUTENEGGER
Prolog
Angesichts der Tatsache, dass im Moment über 40 Millionen Menschen in Europa viel Glück brauchen, habe ich mich anfangs schwergetan, etwas zu Papier zu bringen. In der Hoffnung, etwas Heiterkeit zu verbreiten, habe ich mich schlussendlich für eine humorvolle autobiografische Kurzgeschichte entschieden.
***
Oh Gott, in etwa drei Wochen ist es wieder so weit. Soll ich mich freuen oder nicht? Michael verhält sich noch ruhig. Ich bin innerlich sehr beschäftigt mit den zwei Wochen, die da auf mich zukommen. Klar, nach diesen vierzehn Tagen werden wir uns erholt, ausgeschlafen und fit fühlen. Paah, Sie denken, wir fahren in Urlaub? Weit gefehlt!
Letztes Jahr um diese Zeit hat alles angefangen. Michael und ich hatten lecker gegessen, natürlich mit Weisswein zum Apéro, Rotwein zum Boeuf Stroganoff. Zufrieden sassen wir beim Dessert inklusive dem obligaten Verdauungsschnäpschen und den je sieben Kilos zu viel an den Hüften. Sie verstehen, das sind die Restanzen des ersten Coronajahres. Herrgott, ich weiss nicht mehr welcher Teufel uns geritten hat – es muss der Alkohol gewesen sein. Da fühlt man sich ja meistens stark und mutig! Also, da hatten wir plötzlich die grandiose Idee, na ehrlich gesagt war ich der Auslöser, da ich alle zwei Wochen ein schlechtes Gewissen habe, das heisst, ich will meinen Lebenswandel ändern und wieder viel mehr für die Gesundheit tun. Michael sieht das gelassener. Er ist der Ansicht, wir hätten genug in unserem Leben gearbeitet. Jetzt hätten wir eben zwanzig Jahre Ferien und Ferien ohne leckeres Essen und Trinken seien keine Ferien. Verstehen Sie uns bitte nicht falsch, auch in unseren sogenannten zwanzig Jahren Ferien essen wir viel Gemüse, bewegen uns täglich an der frischen Luft, aber eben der Verbrennungsmotor ist altersbedingt langsamer. Geht Ihnen doch ähnlich, oder? So weit, so gut, ich erklärte Michael, dass ich unbedingt eine F.X.Mayr-Kur machen möchte. Er meinte, da mache er mit! Können Sie sich meine Überraschung vorstellen? Ich dachte, ich hätte mich verhört. Aber nein, er ging noch weiter – er kratzte sich am Hinterkopf – was meistens ein Zeichen seiner geistigen Anstrengung darstellt. Dann erinnerte er sich daran, dass ich ihm mal von einem netten F.X.Mayr Kurhotel im Vorarlberg erzählt hätte. Das wäre doch toll, zumal wir nur knappe fünfzig Fahrminuten von dort unsere Ferienwohnung hätten. So könnten wir anschliessend gleich da hin zum Ausklingen der Kur fahren. Ich war noch nicht fertig mit nicken, das schnappte sich mein Göttergatte den Laptop und googelte das Resort. Keine fünf Minuten später hatte er für drei Wochen gebucht. Ja genau, Sie haben richtig gelesen – drei Wochen! Er meinte, wann schon dann schon, will heissen hard core. Wunderbar wir hatten also die Komplettsanierung gebucht!
Da diese Sanierung bereits in zwei Wochen anstand, mussten wir quasi die Kur vor der Kur gleich beginnen. Wissen Sie was das heisst? Ab sofort Kaffee auf ein absolutes Minimum reduzieren, keinen Alkohol, wenig Kohlenhydrate und vor allem abends ganz leichtes Essen. Wir taten unser Bestes!
Am Sonntag trafen wir im Kurhotel ein. Später würden wir es liebevoll die Anstalt nennen. Ein wirklich schönes Haus mit Schwimmbad, verschiedene Saunen, Fitnessraum (für die Streber!) und eine tolle Aussicht auf das Rheintal und den Bodensee. Zum Glück hatte Michael ein traumhaft schönes Zimmer mit einer riesigen Terrasse gebucht. Wir mussten hier schliesslich drei Wochen wohnen.
Puuh, das Willkommens-Abendessen bestand aus einem Gemüsepudding – ja das wars! Dazu gab es nichts zu trinken! Dachte ich’s mir – Sie wissen nicht warum man nicht trinken sollte zum Essen. Wussten wir bis zum Montagmorgen auch nicht! Also, wenn Sie während dem Essen trinken, verdünnen Sie den Speichel und verlangsamen somit die Verdauung.
Am Montagmorgen gings erst richtig los, Weckruf um sieben! Danach ein Glas Wasser mit Glaubersalz – um sieben Uhr dreissig leichte Frühgymnastik. Das Glaubersalz machte der Frühgymnastik einen Strich durch die Rechnung – und so blieb es drei Wochen lang. Anschliessend hatten wir unseren ersten Arzttermin – beim Chefarzt der Klinik. Er, ein Herr in unserem Alter, der uns den ganzen Kurablauf freundlich erklärte, während ich sein Bäuchlein bestaunte – auch er ist nur ein Mensch. Dann gings endlich zum Frühstück. Jetzt halten Sie sich fest, nichts zu trinken, eine zwei Tage getrocknete Semmel in dünne Scheiben geschnitten, etwas Hüttenkäse und Naturjoghurt. Hier die Gebrauchsanweisung zum Essen. Man beisse eine kleine Ecke der Semmelschnitte ab, nehme etwas Hüttenkäse, kaue dies zusammen mindestens dreissig Mal. Danach nehme man einen kleinen Löffel des Joghurts, speichle alles gut ein und schlucke das ganz langsam. Dies bitte wiederholen bis zwanzig Minuten um sind. Dann stellt sich das Sättigungsgefühl ein. Das muss alles schweigend geschehen – wegen der Konzentration auf den Essgenuss – dafür hatten wir manchmal das Gefühl einer Trauergemeinde beizuwohnen.
Der erste Morgen wird mit Heilgymnastik abgerundet. Ach du Schreck, bald hätte ich die äusserst delikate Basenbrühe um zehn Uhr vergessen. Bitte auch die löffeln, nicht trinken! Der erste Löffel liess meine Gaumennerven erschauern, gesund und grässlich. Vor dem Mittagessen gibts einen warmen Heuwickel um die Leber zu entlasten. Das ist definitiv mein liebster Programmpunkt. Dann kommt das zweite Highlight des Tages, das Mittagessen bestehend aus etwas Gemüse, manchmal mit Fisch. Am Nachmittag gehen Michael und ich wacker nach draussen um ja in Bewegung zu bleiben. Vor dem stillen Nachtessen geniessen wir ein paar Tassen Tee, der Entgiftung wegen. Zum Nachtessen gibt es eine Gemüsesuppe und wieder das Brötchen mit Hüttenkäse. Innerlich höre ich die Stimme des Arztes, reinbeissen, dreissig Mal kauen, einspeicheln mit Hüttenkäse, runterschlucken.
Dann aber nichts wie rauf in unsere Höhle. Hoffentlich kommt was Nettes im Fernsehen. Das gönnen wir uns. Dank dem Kaffeeentzug macht sich zuerst bei Michael, dann bei mir das Kopfweh breit – genial – warum muss gesund sein mit Schmerzen einhergehen? Egal, wir sind in der Kernsanierung, also gehen wir jeder mit einer Kopfwehtablette um einundzwanzig Uhr brav ins Bett.
Und so gingen die ersten paar Tage dahin, wir gewöhnten uns an die Basenbrühe, die trockene Semmel, den Hüttenkäse und das schweigende Essen.
Langsam fühlten wir uns tatsächlich besser. Ende der ersten Woche gingen wir sogar nach Bregenz bummeln. Wenn Sie uns kennen würden, Sie würden es nicht glauben – wir gingen in ein Restaurant und bestellten, nein kein Glas Grüner Veltliner, sondern zwei Orangenblütentees. Ja wir blieben stark. Während wir am ersten Montag ängstlich auf die Anzeige der Waage im Arztzimmer blickten, schauten wir nach einer Woche freudig drauf. Unser Bauchumfang, ein ganz wichtiges Thema bei einer F.X.Mayr-Kur reduzierte sich, was sogar dem Chefarzt ein zufriedenes Lächeln entlockte.
An diesem ersten ach so erfolgreichen Montagabend, wir waren beim Abendessen, es muss vermutlich zwischen dem Bissen zwanzig und dreissig gewesen sein, blicke ich zu Michael, der sich wieder gedankenverloren hinter dem linken Ohr kratzte. Oh was kommt nun wohl? Kaum fertig gedacht, flüsterte er zu mir:
«Karin, ich denke wir sollten diese Kur zwei Mal im Jahr machen, im Frühling und im Herbst. Es tut uns gut. Ich dachte an jeweils zwei Wochen. Was meinst du?»
Ich musste aufpassen, mich nicht an der Semmel zu verschlucken – trinken ist ja nicht angesagt.
«Super Idee!», hauchte ich meinem Liebsten entgegen. Ich wusste er hatte recht, wie leider meistens.
So geschah es, dass wir nach dem Abendessen schnurstracks an die Rezeption gingen um unseren Herbstaufenthalt und eben den nun im Frühling 2022 anstehenden gleich zu buchen.
Wir, – Helden der Gesundheit?!
Wie sie sich denken können, überlebten wir die drei Wochen. Stolz und mit sechs Kilo weniger auf den Rippen verliessen wir die Anstalt. Wir versprachen, uns, noch mindestens zehn Tage an ein Nach-Kur-Regime zu halten. Dafür sind wir hoch in die Berge in unsere Ferienwohnung gefahren. Die ersten fünf Tage verliefen nach Plan. Dann machten wir eine Wanderung – tägliche Bewegungseinheiten und so! Müde und durstig standen wir plötzlich vor dem Restaurant Jägerstüble. Zuerst dachten wir an einen kleinen gemischten Salat – leider konnten wir dann den dazugehörigen Kässpätzle nicht widerstehen. Sie können das sicher nachvollziehen, schliesslich waren wir mindestens drei Stunden gewandert. Beim Dessert hatten wir uns fast wieder im Griff, wir teilten uns einen Apfelstrudel! Kaum hatten wir den Espresso getrunken ging die Tür auf und wer kam rein? Sie kommen nie drauf – der Chefarzt der Klinik. Wir hatten komplett vergessen, dass er ein Ferienhaus in dieser Gegend hat. Freundlich winkte er uns zu und setzte sich an einen Tisch am anderen Ende des Lokals. Michael und ich hatten beinahe einen Schweissausbruch – dann realisierten wir, dass ja nur noch die Espressotassen auf dem Tisch standen. Wow, Glück gehabt. Eilig verlangten wir nach der Rechnung. Bertram, der Wirt brachte sie uns lachend und meinte, sie sei bereits vom Herrn da hinten bezahlt worden. Staunend schaute Michael auf die Abrechnung – da stand drauf: Geht auf meine Rechnung – Glück gehabt – Geniesser wie ihr kommen immer wieder zu mir.
Wie wahr, im April 2022 werden wir wieder in der Anstalt sein.