EINE GESCHICHTE VON TONYETTLIN

 

„Die Skier gleiten lassen. Gewicht verlagern. Regelmässig atmen. Auf die Läufer links, rechts und vor dir achten, damit du dich nicht mit ihren Stöcken verhedderst. Pulsfrequenz nicht über 140. Locker bleiben. Es ist noch weit bis ins Ziel. Nicht an das Ziel denken. Im Moment bleiben.“ Patrick schaute kurz nach vorne, wo sich Tausende von Läufern in einer endlosen Kolonne über den Silsersee bewegten. Die Spitzenläufer hatten Sils schon erreicht bevor die Kategorie der Volksläufer die Marathonstrecke in Angriff nehmen konnte. Der eisige Wind blies ihm ins Gesicht.
„Gopf!“ fluchte er und verlor für einen Moment das Gleichgewicht, konnte sich aber auffangen und fand wieder seinen Rhythmus. „Pass doch auf!“ schnauzte ihn der Läufer hinter ihm an. „Die Skier gleiten lassen…“ wiederholte er innerlich seine Litanei, die ihn von den Gedanken abhalten sollte, die ihn seit seiner Abreise ins Engadin beschäftigten. Mitten in der Nacht hatte Anita ihn zum Bahnhof gebracht und ihn im Auto mit den altbekannten Vorwürfen genervt. Sie warf ihm vor, er denke nur an sich. Nur immer Langlaufen, trainieren für den Marathon, den er doch schon fünfzehn Mal gemacht hätte. Das Wetter sei schlecht und überhaupt hätten sie doch zum Geburtstagsfest ihres Bruders fahren können. Nun fahre sie halt allein, einmal mehr. Patrick hatte eisig geschwiegen. Er war ausgestiegen, hatte ihr einen flüchtigen Kuss auf die abgewandte Wange gedrückt und sich unter die wartenden Langläufer in dick wattierten Jacken auf dem Perron gemischt. Im Zug versuchte er, sich auf den Marathon zu konzentrieren, ging im Kopf die Vorbereitungen vor dem Start und die Streckenabschnitte zum hundertsten Mal durch, nestelte an seinen Schuhen und an der Jacke herum. Er beteiligte sich nicht an den Diskussionen der Mitreisenden, die in aufgekratzter Stimmung Erinnerungen an die letzten Rennen austauschten, sich gegenseitig strategische Typs gaben und wo man sich unbedingt verpflegen sollte. Er stellte sich schlafend und grübelte an der Beziehung zu Anita herum, die ihn zunehmend zermürbte. Warum konnte sie ihn nicht machen lassen? Warum mussten sie denn immer alles zu zweit unternehmen? Und diese Verwandtschaftsbesuche, wo er Sachen essen musste, die nicht in seinen Sportlerernährungsplan passten, wo er zum Weintrinken gedrängt wurde, wo immer über die gleichen Themen gesprochen wurde, die ihn nicht interessierten.

Das Zischen der hundert Skipaare, die um ihn herum über den gewalzten Schnee glitten, holte ihn zurück auf die Loipe. In der grossen Schlaufe in Sils liess der Wind etwas nach. Die Lautsprecherstimme meldete, dass die Spitze Silvaplana erreicht habe. Gruppen von Zuschauern feuerten sie mit Hopprufen und Glockengebimmel an. Auf der Ebene, die zum Silvaplanersee hinunterführte, traf ihn der Gegenwind wieder mit voller Stärke. Er suchte hinter dem Läufer vor ihm den Windschatten. Sein rechter Oberschenkel verkrampfte sich. Mit ein paar Doppelstockstössen entlastete er die Beine, kam aber schnell ausser Atem und wechselte zurück zum 2 / 1-Schritt. Keuchend dachte er: „Ich bin schon hinter meinem Zeitplan. So werde ich meine letztjährige Zeit niemals unterbieten!“ „Keine negativen Gedanken!“ befahl er sich und fiel wieder in sein Mantra „Locker bleiben, die Skier gleiten lassen…“

Den Verpflegungsposten in Silvaplana nutzte er um eine ganze Gruppe von Läufern zu überholen, die an den Ständen Halt machten. Mit dem Schwung kam er über den Champfersee. Beim Aufstieg zur ehemaligen Schanze stauten sich die Läufermassen und verschafften ihm eine Verschnaufpause. Sofort holten ihn die Gedanken an Anita ein. Er fühlte sich gebremst, behindert, eingeschränkt. Die Wut, die in ihm aufstieg, stampfte er mit Tännlischritten in den mehligen Schnee. Oben angekommen, stiess er sich befreit mit wuchtigen Stockstössen bis zur Abfahrt, wechselte in halsbrecherischem Tempo zweimal die Spur, um vorsichtigeren Läufern auszuweichen, stürmte durch das Zeltdorf in St. Moritz-Bad in die Steigung zum Stazerwald. Nach der ersten Steigung verliess ihn die Kraft. Keuchend stand er neben der Loipe, hustete und ärgerte sich über jeden Läufer, der an ihm vorbeizog. Mit Vorwürfen an Anita, stieg er wieder in die Spur. Sie hatte ihn mit ihrem Gezänke an einer geregelten Vorbereitung gehindert.

Die Steigungen im Stazerwald schaffte er in kurzen, wütenden Sprints, die ihn zu immer längeren Verschnaufpausen zwangen. Endlich erreichte er den höchsten Punkt nach dem Stazersee und stürzte sich in die Abfahrt. Mit akrobatischen Einlagen und grossem Kraftaufwand schoss er an den mit Matratzen gepolsterten Arvenbäumen vorbei in den hügeligen Streckenabschnitt bis Pontresina, wo ihn Musik und Gejohle der Zuschauermenge empfingen. Wieder liess er den Verpflegungsposten aus, um Zeit zu gewinnen. Schwer schnaufend und mit hohem Puls kämpfte er gegen den stumpfer werdenden Schnee, den giftigen Wind und die zunehmende Müdigkeit, aber auch gegen den Groll, der in ihm kochte. „Ich lasse mich nicht einsperren!“ fluchte er. „Ich werde es dir zeigen, Anita!“ presste er mit pfeifendem Atem heraus.

Irgendwie kam er auf die lange Ebene beim Flugplatz Samedan. Seine Skier klebten am matschigen Schnee. Mit schmerzenden Armen schob er sich vorwärts. Die Gleitschritte wurden kürzer. Mit zittrigen, schweren Beinen versuchte er das Gleichgewicht zu halten. Die Loipe stand wie eine weisse Mauer vor ihm. Die Läufer, die ihn überholten, gaben ihm das Gefühl, er bewege sich rückwärts.
„Hungerast!“ ging es ihm durch den Kopf. „Der Hammermann schlägt zu! Aber aufgeben kommt nicht in Frage. Den Triumph gönne ich Anita nicht!“

Mit Mühe schaffte er es bis La Punt. Als er im Dorf kurz anhielt, knickten seine Beine ein und er fiel vor ein paar Zuschauern in den Schnee. Hände griffen unter seine Achseln und versuchten ihn auf die Skier zu stellen. Ein Voluntari rannte herbei, schaute ihm in die Augen und fragte, wie er sich fühle.
„Akku leer!“ stammelte Patrick und riss sich die Startnummer von der Brust. Der Helfer gab ihm einen Becher mit warmem Tee. Patrick setzte sich auf eine Bank an einer Hausmauer und kaute an dem Sandwich, das ihm ein Zuschauer reichte.

„Akku leer!“ wiederholte er erschöpft. „Das werde ich auch zu Anita sagen!“ Dann schleppte er sich mit den Skiern in der Hand zum Bahnhof.