EINE GESCHICHTE VON ISABELLE LEUTENEGGER

 

«Gottfried, hol den Wein, wir müssen über unsere Beziehung reden!»
«Was ist denn mit dir los Sabine? Ist doch alles in Ordnung bei uns. Meinst du nicht, wir sollten heute Abend auf Alkohol verzichten? Normalerweise trinken wir wochentags nicht! Unsere nächste Wanderung steht vor der Tür»
Du bald auch, sollte das so weiter gehen, rast es durch Sabines Kopf. «Mir egal! Ich will ein Glas Rosé. Soll ich in den Keller?»
«Okay, okay, ich geh ja schon. Gott, was ist dir über die Leber gekrochen?»

Zufällig gefundene Zeilen haben Sabines seelische Schieflage verursacht. Bewusst installiert sie sich nicht auf dem Sofa. Gespräche von grosser Tragweite sollen an einem stabilen Tisch mit adäquaten Sitzgelegenheiten stattfinden. Auf dem schwarzen Holztisch drapiert sie zwei Gläser und eine Kleenex Box.
«Das hat aber lange gedauert! Ich dachte, ich müsse einen Suchtrupp losschicken!»
«Ich bin noch Frau Bührer begegnet. Schöne Grüsse.»
Sabine schnappt sich den Roséwein und entkorkt mit geübter Hand die Flasche. Schnell füllt sie die Gläser so, wie es Herr Knigge nie getan hätte.

«Gottfried, ich mag nicht mehr. Also, ich habe ein für alle Mal genug von deinen Kontakten mit dieser Frau Romer! Es ist immer das Gleiche. Nach diesem Gespräch wirst du mir wieder inbrünstig versprechen, sie nicht mehr zu kontaktieren oder zu treffen. Aber das hatten wir schon einige Male. Alle paar Monate begegnet ihr euch doch. Hast du das Gefühl, ich merke das nicht? Du versuchst, so gut du es eben kannst, diese Treffen vor mir zu verheimlichen. Ich habe immer wieder versucht, darüber hinweg zu sehen. Kommst du von ihr zurück, bist du gut drauf; ich hingegen leide. Schlimmer noch, ich weiss, da kommen wieder schwierige Wochen auf mich zu. Warum, Gottfried warum?»

Betroffen schaut Gottfried auf die weissen Knöchel ihrer Fingergelenke:
«Sabine, es tut mir so leid, wirklich. Du wusstest zu Beginn unserer Beziehung, dass es diese Frau Romer gibt. Du wusstest auch, dass ich sie mehrmals im Jahr treffe. Klar komme ich beschwingt und entspannt von ihr zurück. Ich bin jedoch schon der Meinung, dass etwas Abwechslung unserer Beziehung guttut. Zu Beginn unserer Beziehung vor 5 Jahren warst du sehr aktiv. Aber über die Jahre haben deine Aktivität und Ideenvielfalt kontinuierlich abgenommen. Das hat leider zur Folge, dass ich Frau Romer öfter kontaktiere.»
Sabine stürzt das zweite Glas Rosé runter. Zischend lamentiert sie:
«Ist doch klar, dass zu Beginn einer Beziehung alles besser läuft, interessanter ist und man bereit ist, die verrücktesten Dinge auszuprobieren. Dir ist hoffentlich klar, dass deine Wünsche und Ideen immer ausgefallener wurden. Ich begann sogar mit Fitness, nur damit meine Ausdauer mit deiner mithalten konnte. Anfangs bin ich wirklich gern mit dir in den Transa-Shop nach Zürich gefahren. Diese Welt war neu für mich. Aber tief im Innern bin ich ein geborenes Couch Patato und habe es satt, meine Leistung mehr und mehr steigern zu müssen. Ich habe das Gefühl, nicht mehr ich zu sein. Das laugt aus und tut unserer Beziehung nicht gut Gottfried.»

Tränenselig greift Sabine nach der Kleenex Box:
«Beim Aufräumen habe ich zufällig eure ‘geheimen’ Unterlagen gefunden – Besteigung des Kilimandscharo! Darum die alkoholfreien Tage und Wochenenden mit endlosen Wanderungen auf jeden bekloppten Stutz! Ich habe auch gesehen, dass dies ein Geschenk zu meinem 35. Geburtstag hätte werden sollen. Gut gemeint und schlecht getroffen. Geh doch mit Frau Romer dort hin, aber die ist ja auch schon bald sechzig! Echt, Gottfried, entscheide dich! Hochleistungsurlaub à la Romer oder ich! Ich wäre schon zufrieden mit einer gemütlichen Woche im Hotel Papa in Rimini!»