EINE GESCHICHTE VON MANUSCH
Tante Anni war unruhig, denn schon den ganzen morgen läutete das Telefon abwechselnd mit dem Handy oder der Haustürklingel. OK, ja, sie feierte heute ihren 90.er, aber so ein Affentheater hatte sie eben genau nicht gewollt. Außerdem hatte sie schlecht geschlafen oder besser gesagt fast gar nicht und dazu noch hatten sie wilde Träume geplagt. Eigentlich wollte sie nur ihre Ruhe haben, wobei vor der Ruhe hatte sie auch riesengroßen Respekt, denn da klang schon immer mal nach Ewiger Ruhe und von der wollte sie noch länger nichts wissen. Sie kochte sich einen italienischen Espresso, den sie nach so vielen Jahrzehnten noch immer a liebsten mochte, biss in das allzu gesunde und etwas bittere Vollkornbrötchen, das ihre Enkelin immer am Markt für sie kaufte und streckte sich ausgiebig.
Da fuhr ihr ein Gedanke rasant durch den Kopf: Was, wenn ich einfach mal abhaue?! Wenn ich einfach mal auf den nächsten hohen Gipfel fahre um runter zu schauen, wenn ich… JA! warum denn nicht. Bevor die Zweifel sich lauthals melden konnten stellte sie das Handy auf Flugmodus, sprach beim Festnetzanschluss sehr freundlich auf den AB: Liebe Anrufer, es tut mir leid, der Berg ruft und ich muss ihm folgen. Bin ab morgen wieder zu erreichen. P.S. Danke für eure guten Wünsche, die nehme ich alle mit hinauf in die Wolken!
Dann lachte sie befreit auf und suchte so rasch es die müden Knochen zuließen ein paar berggängige Kleider heraus, rief das Taxi und fuhr damit zur Talstation. Ahhh, das Gefühl auszubrechen war so gut, dass Anni bis über beide Ohren schmunzelte, was ihr faltiges Gesicht zum Leuchten brachte. 90 Jahre, was hieß das schon, dachte sie bei sich, irgendwie hat das wohl mit mir selbst nicht viel zu tun. Ich war immer da und immer angepasst und immer die „liebe Anni von Nebenan“, warum habe ich das eigentlich so lange durchgehalten. Sie schüttelte ob dieser unerwartet klaren Gedanken den Kopf und blickte direkt in die Augen des Gondelführers. Er war wohl ein Praktikant, so jung und frisch und fröhlich, wie er sie anblickte. So Lady, ein besonderer Ausflug heute?! Oh ja, junger Mann, das kann man so sagen, ich feiere ein Jubiläum und wollte schon immer auf diesen Berg hinauf und heute ist es tatsächlich so weit.
Sie waren alleine in der Kabine und er erklärte ihr die schneebedeckten Gipfel, die ringsum zu bewundern waren, erzählte von den steilsten Abfahrten und den besten Touren, die er hier erlebt hatte. Es schien also ob die Zeit in der Gondel stehen geblieben war, denn auch Anni erzählte. Von ihren Gipfelsiegen in 90 Lebensjahren und von ihren Talfahrten und vom Leben an sich. Sie sprach mit wenigen Worten und als sie an der Bergstation ausstieg, da war ihr, als wäre ein schwerer Rucksack von den Schultern gefallen. Sie schlenkerte mit den Armen und Beinen, atmete tief durch und wanderte bedächtig über den schmalen Pfad, der sich nach oben schlängelte. Neben einem riesigen Felsen stand ganz still eine Gämse und rührte sich keinen Millimeter, nur die Atemwölkchen waren in der kalten Luft zu sehen. Anni war verzaubert und lehnte sich an den Felsen, dann schloss sie die Augen und freut sich still. Was für ein Jubiläum. Sie träumte sich weit fort, in die Wolken, mit all den guten Wünschen im Gepäck ließ sie einfach das Leben los.