EINE GESCHICHTE VON TONYETTLIN
„Guten Morgen Gina, da ist der Klaus. Du, hättest du gerade etwas Zeit für mich, können wir uns kurz treffen?“
„Hoi Klaus, ja, ähm – doch schon. Aber was ist denn los, du hörst dich so komisch an?“
„Ja, ich habe ein Problem. Aber das erzähl ich dir lieber gleich und nicht am Telefon, wenn das ok ist für dich.“
„Klar. Also wie wär’s um 11 Uhr im Pöschtli bei mir um die Ecke?“
„Mir wär’s fast lieber im Sitzungszimmer bei euch. Ob das wohl gerade frei ist?“
„Warte , ich sehe kurz nach.- Ja ist nichts gebucht. Also um 11 Uhr bei uns, ok?“
„Ja – danke, bis gleich!“
„See you.“
Das war am Dienstag vor einer Woche. Der Zeitpunkt war vielleicht etwas ungewöhnlich, aber er musste es tun, wenn nicht jetzt, wann dann? Schon zu lange hatte er die Sache vor sich hergeschoben, hin und her überlegt, wie er es Gina sagen sollte, nächtelang hatte er sich im Bett gewälzt und sich vorgestellt, wie sie wohl reagieren würde. Unzählige Male hatte er zum Telefon gegriffen, es wieder hingelegt, eine SMS geschrieben, die er wieder löschte, Briefe angefangen, aber wer schreibt denn heute noch Briefe? Er erschrak, als er Ginas Stimme hörte, stammelte zuerst etwas, das sie nicht mitbekam, staunte als er sich selber die Sätze sagen hörte, die er eingeübt hatte und war überrascht und erleichtert, dass sie so ohne gross nachzufragen, bereit war ihn zu sehen. „Im Sitzungszimmer!“ sprach er halblaut vor sich hin, als er aufgelegt hatte. „Was für ein Blödsinn!“ Zum Essen einladen hätte er sie sollen! Aber dann hätten sie wieder über alles Andere gesprochen, die Arbeit, die gemeinsamen Freunde, die Pandemie, das Wetter. Nein, das war gut. Ungestört, an einem neutralen Ort, ohne fremde Leute, die sie beobachten konnten, ohne Servierpersonal, das auf die Bestellung wartete, und überhaupt, das Pöschtli war ja geschlossen, zu kalt, um draussen zu sitzen.
Klaus zog seine Jacke an, als die Türglocke ging.
„Herr Brülisauer,“ strahlte ihn die 85-jährige Nachbarin an. „Entschuldigen Sie die Störung! Könnten Sie mir den Harass Mineralwasser, der drunten vor der Türe steht, in den Keller stellen?“ Natürlich konnte Klaus nicht nein sagen. „Und meine Einkaufstasche steht auch noch da unten. Wenn sie so lieb wären..!“
Klaus nickte, rannte die Treppe hinunter und mit der vollen Tasche wieder hinauf. Als er mit dem Harass unten vor der Kellertüre stand, fluchte er: „Gopf, sie hat mir den Kellerschlüssel nicht mitgegeben.“ Nochmals ein Spurt in den dritten Stock. „Aber bringen Sie mir den Schlüssel gleich wieder zurück. Und eine Flasche Mineralwasser. Vielen Dank, sie sind ein Schatz!“ Schweissgebadet kam er oben an. „So kann ich doch nicht zu Gina gehen!“ In seiner Wohnung zog er das nasse Hemd aus, trocknete sich mit dem Frotteetuch ab, knöpfte das frische Hemd zu und rannte die Treppe hinunter. Er wollte gerade in den Bus steigen, als er den Aufkleber sah: „Maske obligatorisch.“ Er hatte keine Maske dabei. Die steckte in der Tasche der Jacke, die er normalerweise zur Arbeit anzog und die jetzt in seiner Wohnung hing. „Das schaffe ich nicht mehr bis elf Uhr und Gina ist empfindlich, wenn es um Pünktlichkeit geht.“ Er holte sein Handy aus der Tasche und wählte Ginas Nummer. Der Bildschirm blinkte kurz auf und verschwand wieder. Akku leer! Er starrte verzweifelt auf das schwarze Display. „Mit dem Fahrrad schaffe ich es vielleicht noch!“ Im Keller stand er wieder vor der verschlossenen Türe, rannte hinauf in die Wohnung, suchte den Schlüsselbund bis er ihn schliesslich in der Tasche der Jeans fand, die er gestern getragen hatte. Das Fahrrad hing an einem Haken an der Wand. Beim Herunterholen streifte die Kette sein Hosenbein und hinterliess schwarze Striemen. Vor zwei Wochen hatte er sich vorgenommen, das Velo nach dem Winter fahrbereit zu machen, aber es war etwas dazwischen gekommen. Beide Reifen waren platt. „Wo ist denn die verdammte Pumpe?“ fluchte er. Er hatte sie im Herbst einer Nachbarin ausgeliehen und seither nicht mehr gebraucht.
Klaus hängte das Rad an den Haken, kehrte in die Wohnung zurück, lud den Akku seines Handys auf und schrieb: „Es ist etwas dazwischen gekommen. Tut mir leid. Wie wäre es morgen?“
„Morgen, gleiche Zeit, gleicher Ort.“ Gina schien nicht böse zu sein.
Am Mittwoch platzte die Wasserleitung im Badezimmer. Am Donnerstag kam seine Mutter unangemeldet zu Besuch. Am Freitag zitierte ihn sein Chef ins Büro. Am Wochenende wollte er Gina nicht belästigen. Am Montag starb seine Grossmutter. Am Dienstag versuchte er es nochmals, doch Gina war nicht zu erreichen. Am Mittwoch erfuhr er, dass sie Ferien hatte und erst in drei Wochen wieder da sein werde.
Verzweifelt schreibt er ihr eine SMS: „Gina, ich liebe dich, aber es kommt immer etwas dazwischen.“
Gina antwortet: „Wie recht du hast! Ich bin gerade in den Flitterwochen mit meinem Mann.“