EINE GESCHICHTE VON TONYETTLIN

 

Sibylle lag bäuchlings im blühenden Schnittlauch, das Gesicht im Rosenstrauch, die rote Küchenschürze in der feuchten Gartenerde, in der rechten Hand die Küchenschere, mit der sie offenbar Kräuter schneiden wollte. An ihrem Hinterkopf klaffte eine Platzwunde, aus der Blut in das Gewürzbeet geflossen und zu einer braunen Lache eingetrocknet war. Das dunkelbraune Haar, zu einem Pferdeschwanz gebunden, hatte sich im Rosenstrauch verfangen. So hatte sie Moritz, ein Schauspielerkollege am Nachmittag gefunden und sofort die Polizei gerufen. Ein Spurensicherer hatte den Garten mit rot-weissem Plastikband abgesperrt, die Fusstritte im Gras und in der feuchten Erde ausgemessen und fotografiert und einen einzelnen Ohrring, der an einer Dorne des Rosenstrauchs hing, in einem Plastikbeutel sichergestellt. Auch der schwarze Stein, der einen halben Meter neben Sibylles Kopf unter dem Basilikumstrauch lag und an dem getrocknetes Blut und Hautfetzen klebten, wurde als mögliche Tatwaffe gesichert.

Moritz stand mit den beiden Polizeibeamten in der Küche. Auf der Anrichte war alles für ein Essen vorbereitet: zwei Rotzungenfilets, geschälte, gewürfelte Kartoffeln in einer Pfanne, grüne Bohnen, fein-gehackter Knoblauch, ein halbvolles Glas Weisswein, alles nicht mehr ganz frisch.
„Waren Sie zum Mittagessen eingeladen?“ fragte Kommissar Rüegsegger.
„Nein, wir hatten uns zum Kaffee verabredet.“ Moritz holte mit zitternden Händen ein Paket Zigaretten aus der Tasche seiner Jacke und schaute sich nach Streichhölzern um. Er war bleich im Gesicht und wirkte übernächtigt.
„Ich bitte Sie, nicht zu rauchen, bis wir die Spurensicherung abgeschlossen haben.“
„Ja, natürlich!“ Er schob das Paket in die Tasche zurück.
„Wie gut kannten Sie das Opfer?“ fuhr Rüegsegger fort, während sein Kollege Notizen machte.
„Wir waren Berufskollegin und -kollege, haben schon in mehreren Filmen miteinander gespielt. Sibylle war ja bekannt als Kommissarin in verschiedenen Tatort-Staffeln. Ich war jeweils einer der Schurken.“ Er lachte gequält und zog die Schultern hoch. „Einer muss ja diese Rollen spielen.“ Rüegsegger nickte.
„Und wir waren vor Jahren auch ein Liebespaar. Aber das war nur ein Strohfeuer. Seither sind wir gute Freunde.“
„Wo waren Sie gestern Abend?“ Moritz starrte den Polizisten an.
„Sie wollen doch nicht sagen, dass ich sie umgebracht hätte?“
„Sie werden verstehen, dass wir alle Möglichkeiten abklären müssen, so lange wir keine konkreten Hinweise haben.“ Rüegsegger schaute ihn herausfordernd an. „Sie kennen das ja aus ihren Filmen. Und im Moment ist noch nicht klar, ob es sich um einen Mord oder einen Unfall handelt. Wir haben nur die mögliche Tatwaffe und Ihre Fussspuren im Gras.“
Moritz schnappte nach Luft. „Gestern war ich den ganzen Tag auf dem Set in der Nähe von München,“ antwortete er etwas ungehalten. „Dann habe ich mit einer Kollegin im Ratskeller gegessen und im Hotel Opera übernachtet. Heute Morgen bin ich nach Zürich gefahren. Das können Sie alles überprüfen.“
„Gut, das werden wir tun,“ beendete der Polizeibeamte das Verhör. „Ich muss Sie trotzdem bitten, mit uns aufs Revier zu kommen, um Ihre Aussagen zu machen. Vorher können Sie uns noch auf einem Rundgang durch das Haus erzählen, was Sie über das Privatleben des Opfers wissen.“
Die beiden Beamten gingen ins Wohnzimmer. Moritz folgte ihnen missmutig. Er erzählte ihnen, dass Sibylle achtundfünfzig Jahre alt war, allein in ihrem Haus wohnte, ein paar Affären mit wechselnden Partnern hatte, dass ihre Filmkarriere den Höhepunkt überschritten habe, was ihr zunehmend Mühe bereitet habe.
Rüegsegger fragte, ob sie Feinde gehabt habe.
„Ach, wissen Sie, im Filmbusiness weiss man nie so genau, wer dein Freund und wird dein Feind ist. Wenn es um die begehrten Rollen geht, sind alle Konkurrenten. Sibylle hat in den letzten Jahren oft Anderen, Jüngeren den Vortritt lassen müssen und ist im privaten Gespräch heftig über sie hergezogen.“ Er nannte ein paar Namen von bekannten Schauspielerinnen. „Aber sie war ja in einer Familie mit sieben Geschwistern aufgewachsen, war sich also Konkurrenz gewöhnt.“ Sein Blick fiel auf ein Familienfoto, in einem Stehrahmen auf dem Sideboard, das ein Ehepaar auf einer Sitzbank zeigte und dahinter acht Kinder, die wie Orgelpfeifen aufgereiht nebeneinander standen.
„Da ist sie ja! Die Zweite von links. Die mit den Zöpfen.“
Die Polizisten fotografierten und machten Notizen.
„Und noch etwas fällt mir ein, das vielleicht von Bedeutung sein könnte.“ Die Beamten schauten ihn erwartungsvoll an.
„Sie hat in einem Interview einmal gesagt, sie beneide die Opfer in den Kriminalfilmen. Sie hätten eigentlich einen schönen Tod. So ohne langes Leiden, einfach zack und weg. So möchte sie auch sterben, wenn schon gestorben werden müsse. Sie war auch sehr abergläubisch. Deshalb trug sie nur einen einzelnen Ohrring. Man müsse immer etwas offen lassen im Leben, auf alles gefasst sein.“

Moritz fuhr mit den Beamten zur Polizeistation, beantwortete geduldig alle Fragen und wurde schliesslich entlassen. Die Zeitungen spekulierten in den nächsten Tagen über den Mord an der bekannten Schauspielerin. Nach zwei Wochen gab die Polizei bekannt, dass die Untersuchungen ergeben hätten, dass Sibylle eindeutig durch einen Schlag mit dem gefundenen Stein umgebracht worden sei. Die Tatzeit könne klar auf zwei Stunden zwischen acht und zehn Uhr am Vorabend eingegrenzt werden. Es gäbe aber keinen Hinweis auf den Täter oder die Täterin. Alle Fusspuren konnten Sibylle und Moritz zugeordnet werden. Am Stein habe man keine DNA-Spuren einer anderen Person entdeckt. Das Alibi von Moritz sei von allen Befragten einwandfrei bestätigt worden.

Das öffentliche Interesse hatte schon nachgelassen, als sich ein Geologe bei der Polizei meldete. Ob er die Tatwaffe mal anschauen dürfe. Er habe einen Verdacht. Der Staatsanwalt gab die Bewilligung. Der Wissenschaftler wog den Stein in seiner Hand und schmunzelte: „Das habe ich mir gedacht. Dies ist ein Meteorit. An besagtem Abend wurde vom astronomischen Institut ein Feuerschweif am Nachthimmel beobachtet, der auf einen Meteoreinschlag hindeutete. Meistens verglühen die Meteore in der Atmosphäre, aber dieses Mal traf der Brocken die arme Sibylle. Ein schöner Tod!“