EINE GESCHICHTE VON EMANUELFLEUTI

 

Pepe verlangsamte unwillkürlich seinen Schritt und blickte sich um. Nichts. Und doch hätte er schwören können, da war ein Schatten. Offenbar wurde er verfolgt. Er schaute sich prüfend um. Da vorne, da würde es gehen. Er setzte zu einem Sprint an, bog um die Ecke in die Seitengasse und blieb stehen. Mit einem Ruck zog er die Jacke ab, stülpte sie um und schlüpfte wieder hinein. Dann riss er eine Mütze aus der Tasche und setzt sie auf. Noch rasch eine dunkle Brille aufgesetzt und er war bereit.

Eine Gestalt bog um die Ecke und hielt kurz inne. Pepe schwankte vorwärts und mimte perfekt den Betrunkenen.

«Schon wieder einer», lallte er und ging mit ausgebreiteten Armen auf die vermummte Gestalt zu. Diese versuchte auszuweichen, doch Pepe klammerte sich fest und versuchte, den Schal wegzuzerren, der das Gesicht verdeckte. Es kam zu einem Gerangel, beide fielen hin. Die Gestalt riss sich los und rannte weg. Pepe vermutete blonde Haare, aber er war sich nicht sicher. Er fluchte leise vor sich hin. Dann zog er eine Taschenlampe aus der Jacke und suchte sorgfältig den ganzen Boden ab. Direkt bei der Bordsteinkante glitzerte etwas im Licht. Es war ein einzelner Ohrring, den er gefunden hatte. Pepe hob ihn auf. Er war sauber, klein, in Weissgold. Die Chance war gross, dass ihn die Gestalt eben verloren hatte. Pepe stutzte. Das war ein Frauenschmuck.

Er traf sich mit seinem Partner Tom Ate im Restaurant ‘Au Bergine’ bei einem kühlen Ananassaft mit Minze – geschüttelt, nicht gerührt.
«Was geschah bisher?», fragte Tom, nachdem ihm Pepe den Ohrring gezeigt hatte.
«Nun, ich war beim Chef dieser Elektronikfirma. Offenbar wird er erpresst. Sie haben eine geniale Erfindung gemacht. Eine chemische Kabelisolation, aussen grün und innen hohl, die es erlaubt, Kabel viel dünner zu machen, ohne dass Leistung verloren geht. Bahnbrechend. Ein geheimes Projekt unter dem Codenamen «blühender Schnittlauch». Jetzt hat sich jemand gemeldet, der behauptete, er hätte die chemische Formel dieser Isolation und verlangte eine Million in bar, sonst würde er die Formel im Internet veröffentlichen. Als ich die Firma verliess, wurde ich beschattet.»
«Wer war beim Treffen sonst nach dabei?», fragte Tom.
Pepe wurde nachdenklich. «Es hat mich überrascht. Nur der Chef und ich. Niemand von der Computerabteilung oder vom Sicherheitsdienst.»
«Es scheint aber, dass sonst noch jemand von der Erpressung weiss, die wir aufklären sollen», meinte Tom scharfsinnig. Pepe nickte nur und schaute auf sein Telefon, das in diesem Moment vibrierte. Er zog die Augenbrauen hoch.
Er erhob sich. «Besprechung mit dem CEO der Elektronikfirma und dessen Sicherheitsdienst. Es wird spannend». Auf dem Weg zur Firma stoppte er bei Ban A-Ne, seinem Freund aus Costa Rica, der nun in der Technikabteilung arbeitete.
«Ich brauche einige unauffällige Abhörwanzen, die senden können», meinte er nur. Ban A-Ne lächelte und nickte verständnisvoll.
«Ich gebe dir hier vier Kugelschreiber. Sie sind präpariert und können Gespräche senden, allerdings nicht den Standort dazu.»

Pepe fuhr zur Elektronikfirma. Unterwegs kontrollierte er wie immer den Rückspiegel, aber er wurde diesmal nicht verfolgt.

Das Sitzungszimmer war im vierten Stock. Pepe trat ein. Der Chef war schon dort und mit ihm eine junge Frau, etwa Mitte Dreissig mit kurzen blonden Haaren. «Ich heisse Ros Marin», stellte sie sich mit kühler Stimme vor.
«Mein Name ist Roni, Pepe Roni», erwiderte Pepe und lächelte. Sie lächelte nicht zurück. Als sie sich hinsetze, erstarrte Pepe innerlich. Die Frau trug nur einen Ohrring – und dieser sah genauso aus wie derjenige, den er nach dem Gerangel gefunden hatte. Die Gedanken wirbelten Pepe durch den Kopf. Er musste vorsichtig sein.
«Ros Marin wird die Untersuchung leiten und Sie möchten ihr bitte alles berichten, was Sie bisher herausgefunden haben», sagte der Chef mit etwas dünner Stimme. «Wir haben nur noch vierundzwanzig Stunden, dann muss ich bezahlen oder riskiere die Veröffentlichung der Formel und der Schaden wird nur noch grösser.»
Genau, dachte Pepe für sich, das hätte sie wohl gerne. «Sicher», antwortete er, zog die Kugelschreiber aus der Tasche und ein paar Blätter Papier. «Wir haben die Computeradressen einiger verdächtigen Erpresser ermittelt und ich möchte, dass Sie jetzt prüfen, ob ein Zugriff auf Ihr System von einer dieser Adressen erfolgte.» Dann begann er ein paar Zahlen und Nummern ab seinem Notizblock vorzulesen. Wie erwartet nahm sich Ros Marin einen Kugelschreiber und schrieb sich die Nummern auf. Pepe versprach, sich in etwa sechs Stunden wieder zu melden und verabschiedete sich dann hastig. Die Kugelschreiber liess er liegen.

Er fuhr sofort zu Ban A-Ne und traf dort auch Tom. Dann warteten sie gespannt. Es dauerte nicht lange, konnte Ban A-Ne ein erstes Signal auffangen. Es war eine Frauenstimme.
«Dieser Typ hat keine Ahnung und wird uns nicht gefährlich werden», hörten sie die Stimme sagen. Eine Männerstimme antwortete. «Denkst du, dass er bezahlen wird? Soll ich den Druck nochmals etwas erhöhen?»
«Gute Idee», antwortete die Frauenstimme. «Der hat sowas von Angst». Ihr Gelächter wurde übertönt durch plötzlich einsetzende Musik. Es war ein Orgelkonzert und es schien, dass eine Orgelpfeife etwas schepperte.

Pepe war etwas verstimmt. Er hatte schon vor, eine Ahnung zu haben und konnte auch gefährlich werden. Er schaute Ban A-Ne fragend an, worauf dieser nickte. «Die Franziskuskirche», sagte er mit einem Schulterzucken. «Die brauchten schon lange eine neue Orgel».
«Gut», meinte Pepe. «Ich denke wir wissen genug. Ros Marin ist der Kopf der Erpressung. Kannst du einen Abgleich machen zwischen den Mobiltelefonen, die eben beim Sender neben der Kirche angemeldet waren und allen Angestellten der Elektronikfirma? Ich glaube, das ist ein Insiderjob.»

Pepe rief sogleich den Chef der Elektronikfirma an und verlangte eine dringende Sitzung. Dann rief er Inspektor Ab Fel an und weihte ihn in seinen Plan ein. Noch während er unterwegs war, summte sein Telefon. Er hielt an und las die Mitteilung: «Pflau Me, IT-Techniker, Adresse: Güllenstrasse sieben». Er leitete die Nachricht an Ap Fel weiter.

Pepe traf den Chef und Ros Marin wieder im Sitzungszimmer. «Nun», sagte er ohne grosse Umschweife, «der Fall ist gelöst». Der Chef und Ros Marin schauten ihn ungläubig an.
«Wohl kaum», prustete Ros Marin heraus.
«Oh doch», widersprach Pepe, «ich hatte da so eine Ahnung und übrigens, auch ein Betrunkener kann gefährlich werden». Ros Marin wurde rot.
«Ros Marin hat diese Erpressung eingefädelt», sagte Pepe ungerührt zum Chef, «sie wurde dabei unterstützt von Pflau Me, der auch hier arbeitet. Im Moment erhält er gerade Besuch von der Polizei. Wir haben sie beide mit einem Kugelschreiber überführt. Sie brauchen nichts zu bezahlen, aber eine kleine Spende für eine neue Orgelpfeife in der Franziskuskirche schadet auch nicht.»
Inspektor Ap Fel betrat das Sitzungszimmer und schwenkte ein Paar Handschellen. Pepe drehte sich nochmals kurz um. «Hier ist übrigens noch der zweite Ohrring», fügte er hinzu. «Damit sich der einzelne nicht so einsam fühlt.»

Dann fuhr er direkt ins ‘Au Bergine» zu einem kühlen Ananassaft. Dort fühlte er sich auch nie einsam.