EINE GESCHICHTE VON EMANUELFLEUTI
Langsam wurde es dunkel. Die Leute, die am späten Nachmittag noch ins Museum kamen und interessiert die historischen Bilder studierten, verliessen nach und nach die Räume. Stille breitete sich aus. Ein letzter Rundgang noch durch die Saalaufsicht. Ganz besonders im Raum fünf. Dort hingen die grossen Porträts und bereits zweimal hatte die Saalaufsicht am nächsten Morgen ein Bild am Boden gefunden. Unbeschäftigt, unberührt, aber sehr merkwürdig. Einfach aus dem Rahmen gefallen. Es zeigte Verena, ab und zu von Obermoosheim, gelebt vermutlich so von 1715-1768. Niemand wusste das mehr und der Künstler tat seinem Namen alle Ehre und hatte mehr un- als leserlich etwas auf die Rückseite gekritzelt.
Kurz nach zehn Uhr begann die Zeit der Porträts. Sie streckten sich in ihren Rahmen, räusperten sich, und schauten herum, wer sonst noch wach war. Nicht, dass sie die Wand, an der sie hingen, verlassen konnten oder auch nur den Rahmen. Ausser… Ja, da war Verena. Immer Verena. Kannte weder Sitten noch Gepflogenheiten und tanzte sozusagen nicht nur aus der Reihe, sondern konkret auch schon mal aus dem Rahmen.
“Psst”, sagte ihre Zwillingssschwester Julia, die direkt neben ihr hing. “Verena, bist du wach?”, flüsterte sie.
“Natürlich”, schnauzte Verena sofort zurück. “Nein ist ja bei dieser Frage keine brauchbare Antwort. Das war ja mal wieder ein anstrengender Tag. Die alte Frau mit der grossen Brille – sie hat mir buchstäblich ein Loch in der Bauch geschaut.”
Julia kicherte. “Und der junge hübsche Mann, der wollte auch nicht mehr weitergehen, was? Ich dachte schon, er werde dich abhängen und einpacken!”
Verena wäre rot geworden, wäre sie nicht mit Ölfarbe gemalt gewesen. “Du weisst genau, mir sind diese Männer alle egal”, seufzte sie. Denn wahrhaftig. Ihr Herz schlug für Benedikt, Grossweibel im Dienste des Königs. Er hing auf der anderen Seite des Raumes, ihr genau gegenüber. Verena schaute wie immer genau hin. Er sah wirklich gut aus, durchfuhr es sie. Eine schöne Uniform, volles Haar und ein stolzer Blick.
Aber eben, es war schwierig, seine Aufmerksamkeit zu gewinnen. Es hatte ihr schon ein paar Mal freundlich zugenickt oder ein paar belanglose Worte gewechselt, aber so wirklich gezündet hatte es nicht.
Inzwischen war es im Raum etwas lebhafter geworden. Die Porträts unterhielten sich, die Frauen meistens über die Mode der Museumsbesucherinnen. Die Männer lebten eher in ihrer historischen Traumwelt weiter und versuchten die Welt von damals zu verbessern.
Plötzlich gab es ein eine Aufregung. “Nicht bewegen”, rief Lukas mit lauter Stimme und deutete zu Benedikt. Alle blickten hin. Ein paar ältere Damen schrien auf und fielen dann pflichtbewusst in eine kurze Ohnmacht. Da hing Benedikt, aber was war geschehen? Er hing völlig schief an der Wand. Er musste es gemerkt haben, denn er schaute hektisch mit zugekniffenem Mund herum. Es war offensichtlich. Der eine Bildaufhänger war gebrochen und Benedikt hing nur noch an einem Faden.
Verena stockte der Atem. Das durfte nicht wahr sein. Krampfhaft suchte sie nach einer Lösung. Wenn Benedikt vom Haken fiel, könnte er beschädigt werden. Nicht auszudenken. Und ob er bis am Morgen durchhalten würde, wenn die Saalwache kam, war nicht abzusehen.
Die Porträts, zumindest jene, die nicht in ihrer Ohnmacht erstarrt waren, überboten sich mit gutgemeinten Ratschlägen: “Bleib ruhig!”, “Spring runter!”, “Schliess die Augen und zähle auf zweihundertfünfzigtausend!” – Ein Ratschlag nutzloser als der andere.
Verena dachte hektisch nach. Sie hatte den Trick herausgefunden, wie sie sich aus dem Rahmen lösen und mehr oder weniger elegant auf den Boden segeln konnte. Sie hatte das schon zweimal gemacht, um in die Nähe von Benedikt zu gelangen. Es hatte auch fast geklappt, doch dann kam von irgendwoher ein Windstoss und so landete sie stattdessen genau vor den Füssen von Margareta, der Urgrosstante ihres Vetters im dritten Grad. War das aber peinlich gewesen.
Sie schätzte die Distanz und überlegte kurz. Eigentlich müsste es klappen. Nur musste sie die Aufmerksamkeit von Benedikt erheischen. Da alle Porträts immer noch auf ihn einschwatzten, pfiff sie. Das war so ungewöhnlich, dass Benedikt aufblickte und sich suchend umschaute. Verena pfiff erneut. Er schaute herum und beim dritten Pfiff merkte er, dass es Verena war.
“Du wirst kaum bis zum Morgen aushalten”, rief Verena, “aber ich kann dir helfen. Wenn ich sagte ‘Jetzt” musst du mit einem Ruck den Faden reissen und dich gleichzeitig mit dem linken Fuss von der Wand abstossen.”
Benedikt nickte etwas atemlos. Er wusste, er hatte nicht wirklich die grosse Wahl. Ihm war Verena schon früher aufgefallen. Sie hatte nicht nur das Herz auf dem richtigen Fleck, sondern auch den Kopf richtig angeschraubt. Wenn sie was im Schilde führte, setzte sie es auch um. Es war ihm nicht entgangen, dass sie schon zweimal versuchte, in seine Nähe zu kommen. Vielleicht war das der Moment, um sich etwas besser kennen zu lernen? Während des Tages war es eh schwieriger, da mussten sie Porträts sein und still halten.
Verena bereitete sich vor. Sie würde viel Kraft brauchen. Also dehnte sie nochmals ihre Muskeln, beobachtete das Geschehen, schätzte Kraft und Distanz nochmals ab und nahm dann tief Luft.
Sie riss mit den rechten Arm hoch und stiess sich vom Rahmen ab. Gleichzeitig drückte sie sich mit aller Kraft beider Beine von der Wand ab. Und schon war sie unterwegs.
“Jetzt”, schrie sie. Dann streckte sie sich und segelte genau in Richtung Benedikt. Dieser machte wie geheissen.
Und plötzlich war es mucksmäuschenstill im Raum. Alles rissen Augen, Münder und Ohren auf. Was um Himmels willen ging da vor sich. Eine Rettungsaktion, durchfuhr es Verena. Sie landete genau wie berechnet nach der Hälfte des Weges zur anderen Wand. Blitzschnell rollte sie sich wie eine Katze zusammen und rollte weiter Richtung Benedikt. Dieser segelte ebenfalls dem Boden zu, nur viel schneller. Es war ihm nicht gelungen aus dem Rahmen zu fallen und er steckte noch drin.
Alle hielten den Atem an. Da, kurz bevor Benedikt auf den Boden fiel, rollte Verena gerade noch unter seinen Rahmen und federte seinen Sturz ab.
Julia kicherte. Benedikt war bildvoran direkt auf Verena gefallen und der Rahmen verdeckte die beiden. Genüsslich lehnte sie sich zurück.
Und mit einmal ging der Lärm wieder los. Alle schrien, riefen, lachten durcheinander und die Ohnmächtigen kamen wieder zu sich, nur um nach dem Hören und Verstehen, was geschah, gleich wieder in Ohnmacht zu fallen.
“Wir müssen die Bildanordnung und Aufhängung prüfen”, sagte der Kurator am nächsten Morgen, als er die Bescherung sah. “Das Bild von Verena passt ja gar nicht in den Rahmen. Kein Wunder fiel sie schon mehrmals raus. Aber wundert mich nur, wie der Benedikt dahin kam. Ich denke, wir könnten beide in einen neuen Rahmen stellen. Zusammen. Von Motiv und Bildgebung passt es gar nicht so schlecht.”