EINE GESCHICHTE VON TONYETTLIN
Vor der Tür zum Atelier lag ein dampfender Kuhfladen. Lolita sah ihn noch rechtzeitig und wusste sofort, was los war.
„Natürlich, Verena!“ Sie lachte über den duftenden Gruss und die Kratzspuren der Hufe auf der Holztreppe. Seit Jahren malte sie grossformatige Bilder von Kühen. Ein Kuh-Gemälde in einem Bündner Hotel hatte sie so fasziniert, dass sie das Tier zum zentralen Motiv ihrer Malerei machte. Während ihre Kolleginnen in der Malgruppe sich mit Blumen, Stillleben, Landschaften oder abstrakten Kompositionen herumschlugen, malte sie Kuhköpfe mit Hörnern, liegende Kühe, Kühe im flotten Trab, Kühe von hinten, ganze Kuhherden. Vor zwei Wochen hatte sie auf einer Leinwand von zwei auf anderthalb Metern ein Porträt begonnen, mit der Ambition, den ganz speziellen Ausdruck einer gutmütigen, aber eigenwilligen Kuh darzustellen. Sie sollte mit ihren grossen Kuhaugen den Betrachter direkt anblicken, als würde sie ihn fragen, was er hier wolle, dies sei ihr Revier und sie würde notfalls ihre geschwungenen Hörner einsetzen, um es zu verteidigen.
Schon bei den ersten Pinselstrichen spürte Lolita, dass diese Kuh widerborstig war. Der Pinsel bewegte sich als würde er von einer unsichtbaren Hand geführt. Die Linien folgten nicht den vorgezeichneten Bleistiftstrichen, sondern holten weit aus und zogen kraftvolle Schwünge auf die Leinwand, die oft über den Rand hinaus endeten. Lolita sperrte sich gegen die Kraft, die ihr etwas aufzwingen wollte, musste aber immer wieder nachgeben. Sie ärgerte sich, fluchte, übermalte mit einer breiten Bürste und wilden Wischbewegungen die ungewollten Konturen.
„Genau wie meine Tochter!“ schimpfte sie. „Die macht auch was sie will!“
Am Morgen hatte sie einen heftigen Streit mit Verena gehabt, die sie mit ihrer pubertären Rebellion zur Weissglut brachte. Mit zerrissenen Jeans wollte sie zu einem Schnuppertag gehen, den ihre Mutter in der Apotheke einer Freundin organisiert hatte. Durch einen Riss leuchtete oberhalb des Knies ein neues Tattoo in grün und rot hervor.
„Was ist denn das?“ hatte Lolita geschrien. „So wirst du bestimmt keine Lehrstelle bekommen!“
„Will ich auch nicht! Diese Quacksalberarbeit interessiert mich nicht!“ schnalzte die Tochter und warf ihrer Mutter einen giftigen Blick unter ihren geschminkten Augenwimpern zu.
„Und was willst du denn?“ rief ihr Lolita verzweifelt nach, während Verena die Haustüre zuknallte. Sie blieb händeringend zurück. Diese Diskussion hatten sie schon unzählige Male geführt und sie endete immer gleich.
Am Nachmittag stand Lolita im Atelier und setzte zu einem neuen Versuch an, die Kuh auf die Leinwand zu bringen. Der Pinsel holte zu energischen Schwüngen aus. Lolita liess es einfach geschehen.
„Dann mach doch, was du willst!“ murmelte sie, immer noch in der Wut gegen ihre Tochter, die vermutlich gerade ihre Zukunft vermasselte. Wie in Trance wählte sie die Farben und schaute zu wie ein Bild einer Kuh entstand, die sie herausfordernd anstarrte, viel grösser als geplant, ein kraftvolles Tier, das die Grenzen der Leinwand sprengte. Nach zwei Stunden hielt sie erschöpft inne und nahm ein paar Schritte Abstand. Fasziniert schaute sie auf das Bild. So hatte sie noch nie gemalt, aber es gefiel ihr. Dieser grosse Kuhkopf, hinter dem nur mit Strichen ein kräftiger Körper angedeutet war, diese Dynamik eines Tieres, das in vollem Galopp auf den Betrachter zuzurasen schien, dieser wütende Blick aus den weitaufgesperrten Augen, das war genau das, nach dem sie gesucht hatte in ihrer langen Phase der Kuhmalerei. Und in dem Moment wusste sie, wie das Bild heissen würde: „Verena!“ Zufrieden holte sie die Holzleisten, aus denen sie einen Rahmen zimmerte. Es war schon dunkel, als sie sich auf den Heimweg machte.
Als Lolita nun über den Kuhfladen stieg und die Türe zu ihrem Atelier aufstiess, war sie nicht überrascht, dass der Rahmen gebrochen war und auf der Leinwand nur noch Trampelspuren einer Kuh in einer angedeuteten Alpwiese zu sehen waren. Verena hatte den Rahmen gesprengt und ihre Freiheit gewonnen. Genau, wie ihre Tochter es auch bald tun würde.