EINE GESCHICHTE VON TONYETTLIN

 

Er konnte sie nicht mehr sehen! Überall Adventskalender! Beim Bäcker durfte er jeden Morgen ein Türlein öffnen und ein Bild des Brotes des Tages anschauen. Und dabei wollte er doch nur seine zwei Vollkornbrötchen kaufen, wie jeden Tag. Die Zeitung gestaltete eine Seite als Adventskalender, wo sich jeden Tag ein zusätzliches Fenster öffnete, durch das man eine kleine Alltagsgeschichte lesen konnte. Der Autohändler schickte ihm einen Adventskalender, mit dem er Schritt für Schritt die Ausrüstungsgegenstände des neuen Modells sammeln konnte und im 24. Tor endlich ein Bild des ganzen Wagens ansehen durfte inklusive des Preisschilds. Die Apotheke sandte ihm einen Adventskalender, hinter dessen Türlein sich Aufbaupräparate, Präventivmittel gegen Erkältungen, Vorbeugemassnahmen gegen frühzeitige Kurzsichtigkeit, Salben für wundgelaufene Füsse und Medizinalschaumbäder versteckten. Die Kantonalbank erklärte ihm in Form eines Adventskalenders die Schritte zur erfolgreichen und sicheren Altersvorsorge. Die Gemeinde lud ihn ein, das Fenster als Türlein zum zehnten oder dreizehnten Dezember zu gestalten und schön wäre es wenn die Passanten an dem gewählten Tag mit Glühwein und Weihnachtsgebäck bewirtet würden. Die Vogelwarte Sempach verschickte einen Adventskalender mit einem Vogel pro Tag und einem Spendenaufruf für den Schutz von Vogelarten, die vom Aussterben bedroht waren. Sogar im Geschäft kam ein Kollege auf die Idee einen grossen Adventkalender zu basteln und jeder Mitarbeitende war aufgefordert, hinter einem Fenster einen Sinnspruch für den Tag zu platzieren. Erwin schrieb auf den Zettel für den zwanzigsten Dezember: „Noch dreimal schlafen!“

Dann tauchte plötzlich ein Adventskalender auf, der sich „der Geheimnisvolle“ nannte. Es war nicht auszumachen, woher er kam, wer ihn abgegeben hatte. Er war einfach da. Kein Firmenname war erkennbar, keine Werbebotschaft, nur der Hinweis auf dem goldlaminierten Karton: „Überlege es dir gut, ob du das erste Fenster wirklich öffnen willst. Es gibt kein Zurück!“ Erwin hängte den Adventskalender an die Wand gegenüber dem Bett. Am 1. Dezember öffnete er das erste Türchen. Ein schwarzes Viereck erschien. Sonst nichts. Kein Wort, kein Bild, kein Geschenk, keine Werbebotschaft. Irritiert schüttelte er den Kopf und fühlte sich betrogen. Das schwarze Viereck verfolgte ihn den ganzen Tag. Was hatte das zu bedeuten? Was war die Botschaft? Er vertröstete sich auf den nächsten Tag. Hinter dem Türchen mit der Nummer zwei kam wieder nur ein schwarzes Viereck zum Vorschein. Erwin starrte auf die schwarze Fläche auf der Suche nach einer versteckten Botschaft. Nichts. Das Spiel wiederholte sich am dritten, vierten, fünften Dezember. Erwin versuchte, es als Scherz zu verstehen, aber die Frage, was der Kalender ihm sagen wollte, ging ihm nicht aus dem Kopf. Gegen Mitte des Monats sah er nur noch schwarze Vierecke, wohin er schaute und alle schienen auf ihn einzureden, ihm etwas sagen zu wollen, das er nicht verstand. Er stolperte durch die Tage, verrichtete seine Arbeit, machte Fehler, wurde von seinem Vorgesetzten zu mehr Sorgfalt ermahnt. Seine Freundin beklagte sich über seine gedankliche Abwesenheit. Er sei nicht bei der Sache, höre ihr nicht richtig zu. Beim Überqueren einer Strasse wäre er fast von einem Auto angefahren worden. Er hatte nur ein schwarzes Viereck gesehen.

Schliesslich hielt er es nicht mehr aus. Am 18. Dezember öffnete er das Türchen Nummer 24. Er wusste, dass er etwas Verbotenes tat, fast wie Eva, die im Paradies nach dem Apfel griff. Das vierundzwanzigste Türchen war grösser als alle anderen. Als er es aufklappte, erschrak er. Der Hintergrund war weiss und es stand ein einziges Wort in der Mitte: „Warum?“

Erwin griff zum Handy und rief die Psychiatrische Klinik an: „Ich möchte mich selber einweisen. Ich habe eine Adventskalenderphobie, werde von schwarzen Vierecken verfolgt und weiss nicht warum.“