EINE GESCHICHTE VON TONYETTLIN

 

Er war ein Langeweiler. In seinen fünfundvierzig Lebensjahren hatte er höchstens als zweijähriges Kind Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Sonst blieb er im Hintergrund, versteckte sich, wenn der Scheinwerfer auf ihn gerichtet wurde, stand hinten an, wenn es etwas abzuholen gab und wurde in der Turnhalle als Letzter in die Fussballmannschaft gewählt. Er war eigentlich unsichtbar. Man übersah ihn leicht und oft war man sich im Nachhinein nicht sicher, ob er überhaupt da gewesen sei. Auf jeden Fall blieb kein Wort von dem was er gesagt hatte, in Erinnerung und oft fragte jemand: „Egon? Welcher Egon?“ wenn sein Name genannt wurde.

Aber Egon gab es. Er hatte sich vierzig Jahre lang eingeredet, dass er ganz zufrieden sei mit seiner Unsichtbarkeit. Er sei halt bescheiden, dränge sich nicht in den Vordergrund, nehme gerne an, was am Schluss für ihn noch bleibe. Er hätte kein Problem damit, dass er im Schatten von anderen stand, sagte er, wenn er auf seine Zurückhaltung angesprochen wurde. Er war nicht unbeliebt und machte seinen Weg in dem er sich eine Routine angewöhnt hatte, die ihn davor bewahrte, irgendwo aufzufallen oder gar anzuecken. Er lebte absolut konventionell, hielt sich an alle Vorschriften und passte sich den Erwartungen an, bevor sie ausgesprochen wurden.

Am Morgen seines fünfundvierzigsten Geburtstags wachte er mit einer verstörenden Unruhe auf. Fetzen eines Traumes hingen in seinem Kopf. Er war als Lokomotivführer auf ausgedienten Gleisen gefahren. Der Zug holperte und ratterte bis er aus den Schienen sprang und querfeldein durch die Landschaft raste. Seltsamerweise machte ihm die Fahrt keine Angst, im Gegenteil: Er genoss den wilden Ritt, jauchzte und johlte als hätte er eine neue, langersehnte Freiheit entdeckt.

Egon rieb sich die Augen und grübelte: „Vielleicht sollte ich mal etwas wagen. Etwas tun, das ich noch nie getan habe. Aus meiner Routine ausbrechen und Neues wagen. Heute wäre doch ein guter Zeitpunkt dafür!“

Er stieg aus dem Bett, schlurfte rückwärts ins Badezimmer, putzte die Zähne mit der linken Hand, duschte kalt-warm-kalt statt warm-kalt-warm, wie er es immer gemacht hatte, kämmte die Haare auf die linke Seite, stülpte die Socken mit der Innenseite nach aussen, und zog die Hose verkehrt herum an, mit dem Reissverschluss hinten. Eine schelmische Freude kam in ihm auf, wie er sie bisher nicht gekannt hatte.

„Alles werde ich ab heute anders machen!“ jubelte er, schnitt das Brot der Länge nach, strich zuerst den Honig und dann die Butter auf die riesige Scheibe, trank zwei Tassen Kaffee statt des Früchtetees, der gut für seine Verdauung sein solle, setzte einen alten Hut auf, den er noch nie getragen hatte und grüsste alle Leute freundlich, die ihm auf dem Weg zum Bus begegneten. Im Bus setzte er sich auf einen Sitz auf der linken Seite mit Blickrichtung nach hinten. Das abenteuerliche Gefühl des Rückwärtsfahrens nahm ihm fast den Atem. Plötzlich realisierte er, dass heute der Erste des Monats war und er vergessen hatte, sein Monatsabonnement zu lösen. Normalerweise hätte er Blut geschwitzt aus Angst vor einer Kontrolle. Doch jetzt löste der Gedanke, dass er ein Schwarzfahrer war und erwischt werden könnte, ein fiebriges Hochgefühl aus.

Die Bürokollegen schauten ihn an, als käme er direkt vom Mond, als er alle lautstark begrüsste und mit jedem ein paar Worte wechseln wollte. Sie schüttelten mürrisch den Kopf und starrten wieder auf ihre Bildschirme. Leicht enttäuscht setzte er sich an seinen Arbeitsplatz und begann die Pendenzen zu bearbeiten, die nach Dringlichkeit in vier Ablagefächern sortiert waren. Er zog die untersten Dokumente aus dem Fach „Später bearbeiten“ hervor und begann Zahlen zusammenzuzählen. Während des Rechnens dachte er plötzlich: „Warum muss zwei plus zwei eigentlich immer vier ergeben?“

„Zwei und zwei ergibt doch drei!“ beschloss er. „Vier und sieben gibt zwölf. Acht und sechs ist dreizehn. Einundachtzig und hundertdreiundzwanzig ergibt zweihundertvierundsechzig.“ Er steigerte sich in eine euphorische Lust und schrieb immer phantastischere Ergebnisse auf die Listen und Statistiken, die er auswerten musste.

Auf dem Heimweg stellte sich wieder das prickelnde Schwarzfahrergefühl ein. Fast als würde sein Wunsch in Erfüllung gehen, stiegen an der dritten Haltestelle drei Kontrolleure ein und verlangten die Fahrkarten. Egon zitterte vor Aufregung. Schliesslich stand der Kontrolleur neben ihm und bat ihn, den Fahrausweis zu zeigen. Egon zwinkerte ihm zu: „Ich fahre heute schwarz! Zwei und zwei sind ja manchmal drei!“ Der Beamte schaute ihn fragend an. „Wie bitte?“

„Ich fahre heute schwarz!“ Egon fühlte sich mutig und verwegen.

„Kann ich bitte Ihren Personalausweis sehen! Das kostet achtzig Franken plus den Fahrpreis!“

„Das macht dreihundertvierundachtzig Franken und sechzig Rappen!“ antwortete Egon verschmitzt und zog seine Identitätskarte aus dem Portemonnaie.

„Sparen Sie sich ihre Spässe!“ schnauzte ihn der Kontrolleur an und las die Karte auf seinem Lesegerät ein.

„Zahlen Sie bar?“ fragte er Egon.

„Jawohl. Yes, Sir!“ Egon holte vier Zwanzigernoten heraus. „Hier sind vierhundert Franken!“ Der Beamte stutzte einen Moment, nahm ihm die Noten aus der Hand und forderte noch drei Franken zwanzig nach. Egon bezahlte und genoss den Rest der Fahrt wie noch nie zuvor.

Am nächsten Tag rief ihn sein Vorgesetzter in sein Büro.

„Egon, was soll das?“ Er knallte einen Stapel Abrechnungen auf den Tisch. Egon schaute gar nicht richtig hin.

„Die sind alle falsch!“

„Nur, wenn Sie meinen zwei und zwei ergäbe immer vier,“ antwortete Egon.

Der Chef blickte ihn verwirrt an.

„Geht’s dir nicht gut, Egon?“

„Doch, doch alles bestens. Aber ich kündige auf Ende Monat. Ich habe erkannt, dass ich in einer Firma, in der zwei und zwei vier ergeben muss, nicht mehr arbeiten kann. Ich möchte etwas Neues erleben!“ Er nahm den Papierstapel vom Tisch und liess den Chef mit offenem Mund zurück.