EINE GESCHICHTE VON MANUSCH

 

Sie schlug wie jeden Samstagmorgen Seite acht der Gratiswochenzeitung auf und freute sich auf das Suchrätsel, das sie in kürzester Zeit lösen würde. Gut gemacht, dann der obligate Schachzug, der diesmal einen besonderen Anfang mit dem Bauer verlangte und dann …..Oje, plötzlich atmete sie schwer, schon wieder so ein doofes Mathe-Rätsel. Sie war erwachsen, ja und sie wusste inzwischen, dass sie nicht dumm ist. Vielmehr hatte sie über die Jahrzehnte gelernt, dass sie im Vergleich mit dem Durchschnitt sogar recht gut denken kann. Dennoch ist da ganz schnell wieder diese übrige Last, diese drückende Erinnerung aus dem Klassenzimmer. Eine Art Déjà-vu aus der Kindheit, dieses dumpfe Gefühl nichts zu verstehen, nicht zu genügen, sobald die Zahlen im Spiel sind. Sie war ein neugieriges Kind, ein intelligenter und wacher kleiner Geist wohnte in ihr und guckte immer wieder neugierig hinaus in die Welt. Manchmal auch etwas ungewöhnlich und gar forsch, was dann leider nicht so gefragt war. Die Fragen die sie stellte, stießen nicht immer auf offene Ohren, mal abgesehen von der etwas einfordernden Art die sie damals hatte, wenn sie unbedingt etwas wissen wollte. Besonders in der Schule war das nicht üblich. Hoffentlich läuft das heutzutage besser und leichter für die Kinder, die Interesse zeigen, das neben dem Schulstoff einzuordnen ist, denkt sie kurz und hat dabei den nachdenklichen Jungen aus dem 5.Stock über ihr vor Augen. Nun gut, der Blick fiel wieder auf die Zeitung mit den Rätsel- und Gedankensportaufgaben.

Die Grundschule lief ja noch einigermaßen rund, aber dann im Gymnasium. Sie erinnerte sich sofort wieder daran, wie sie einmal genervt und verschüchtert vor dem Rechenschieber saß. Der alte Professor – für die 11-jährigen Mädchen waren damals alle Professoren uralt – stand drohend neben ihr und stank. Oh ja, ihre Nase war sehr empfindlich und sie verfügte über einen ausgeprägten, weil umfassenden Geruchssinn, konnte auch Ärger und Wut riechen. Ärger roch pulvrig nach einem dunklen Grau mit gelben schmierigen Flecken darin, das war schon eklig genug. Wut hingegen roch stark säuerlich und stank wie nasses Eisen, sie klang wie ein Stab, der an einem Stahlgitter entlang gezogen wird, mit voller Wucht. Wenn sich dann noch Klang und Geruch in der Wahrnehmung vermengten, war es auf einen Schlag zu viel, dann stoppte bei ihr automatisch jegliches Denken. Dann zog sich das Mädchen zurück in eine stille, einsame Welt, wo es nicht mehr zu erreichen war. Der Matheprofessor roch dazu intensiv nach einem modrigen Rasierwasser, sein Anzug nach Mottenpulver (was sie vom Italienurlab her kannte) und seine Ausdünstung nach Wut, spätestens in der Wochenmitte, wenn die letzte Stunde Mathematik in der Unterstufe zu halten war. Sie wappnete sich jedes Mal wieder und bemühte sich nach Kräften zu hören, was er erklärte. Allerdings rauschte es nur schnell und sinnbefreit durch ihren Kopf und so blieb ihr nichts anderes als-zu-tun-als-ob sie den Rechenschieber oder die Gleichungen verstehen würde. Manchmal ging das gut, aber wenn er genau sie zu einem Ergebnis befragte, war es aus mit dem Verstecken. Er stampfte mit seinen großen Schuhen als er sich ihrem Tisch näherte und packte das altmodische Rechengerät. Dann fitzte er damit durch die Luft und schrie das Mädchen an: 2 plus 2 ist gleich 5 bei dir, das ist ja nicht zu fassen, so eine Dummheit.

Tja, in dem Loch saß sie von da an und den Rest der Stunde und einiger Folgejahre verbrachte sie mit viel Freude in manchen Fächern und viel Angst und wenig Selbstwert, wenn es um Mathe ging. Vermutlich war das ein Grund für den frühen Abbruch im Gymnasium, als ihr später noch die Pubertät mit ihren Tücken zu schaffen machte. Eigentlich wollte sie immer Lehrerin werden, das Leben spielte ein anderes Lied und zum Glück hinderten diese Erfahrungen sie nicht daran, später hochwertige Ausbildungen und ein volles Studium abzuschließen. Gerne hätte sie Kindern in der Nachbarschaft Nachhilfe gegeben in ihrer Freizeit, jetzt war sie schon einige Jahre in der Pension. Aber sie scheute sich, weil wohl der Mathestoff in der Zwischenzeit sicherlich noch komplizierter aufgebaut wäre, schade. Vielleicht sollte sie ein Inserat aufgeben: Gebe kostenfrei Nachhilfe in vielen Fächern (außer Mathe!), ach was, müßige Überlegungen am Wochenende.

All das ging ihr durch den Kopf und sie seufzte. Es kann doch nicht sein, dass ich das Mathe-Trauma nicht endlich loswerde, das ist so überflüssig wie ein Kropf und in die Schule muss ich mich schließlich nie mehr unfreiwillig begeben. Sie holte sich einen heißen schwarzen Espresso und nahm das Rätsel mutig in Angriff. Heute war der beste Tag um der alten Zahlenphobie etwas entgegenzusetzen. Zur Einstimmung rechnete sie flugs im Kopf die 12erReihe, die ihr nicht ganz so unsympathisch war wie zB die 14erReihe, ganz zu schweigen von Divisionen mit 17, sehr unangenehm das Gefühl dabei und los ging´s.

Also, da stand: Bitte löse folgende Aufgabe: 2 + 2 ist Fisch, 3 + 3 ist Acht und 7 + 7 ist Dreieck. Ohne lang zu fackeln reagierte sie, schnappte den Stift und schrieb die jeweiligen Ziffern in eine linke Spalte und in die rechte Spalte spiegelverkehrt. Richtige Spur, siehe da schon wurde da aus zwei 2ern ein Fisch, aus zwei 3ern eine Acht und aus zwei 7ern ein Dreieck, das war ja wohl kinderleicht gewesen. Vielleicht gab es noch mehr auf so einfache Art und Weise zu lösen und sie suchte alte Zeitungen aus dem Papierkorb heraus und nach einer halben Stunde spielte sie sich fröhlich mit Sudokus und nahm sich vor, demnächst im Internet ein paar Gleichungen auf einem Hausaufgabenportal zu suchen und zu eventuell auch gleich zu lösen. Der Vormittag war im Nu verflogen und das mit der Nachhilfe könnte ja doch noch was werden, dachte sie überrascht. Am nächsten Tag stöberte sie im Keller solange in den staubigen, alten Schachteln bis sie den Rechenschieber in der rot-beigen Hülle endlich gefunden hatte, hässlich wie damals. Nein, sie verstand das Ding noch immer nicht, aber das war jetzt nicht wichtig.

Sie zertrümmerte ihn sorgfältig mit dem großen Hammer und mit jedem Schlag trieb sie ein Stückchen, der ihr fälschlicherweise zugeschriebenen Dummheit, aus sich heraus. Schlag für Schlag mit Hingabe, solange bis sie befreit durchatmen konnte. Sie drehte sich im Kreis und lachte laut. Das war auch wirklich Zeit geworden. Manche Dinge gären zu lange im Verborgenen und seltsame, kleine Begebenheiten helfen uns manchmal, einen anderen Weg einzuschlagen oder eine andere Perspektive einzunehmen oder………einfach loszulassen, von alten Beleidigungen und Einschüchterungen und Zuschreibungen.

Sie schmunzelte fröhlich vor sich hin, schnappte sich einen der gut gelagerten Weine im Keller und beschloss, mit sich selbst eine kleine Feier zu veranstalten. Ich habe sie beim Rückweg im Stiegenhaus getroffen und bei dieser Geschichte den alten Roten mit ihr genossen. So eine kleine Ausgrabung, eine Reise in die Vergangenheit, die alte Verletzungen verbirgt, hat sie mir empfohlen und das gebe ich hiermit gerne an euch weiter.

So, jetzt wissen wir das. Wir alle haben die Chance ein „2+2 ist Fisch“ zu entdecken und wieder in unsere eigene Kraft zu kommen, schaut nur immer wieder mal genau zwischen die Zeilen.