EINE GESCHICHTE VON TONYETTLIN

 

Ich kam nach einem ganz gewöhnlichen Tag nach Hause. Schon als ich durch die Haustür ging, merkte ich, dass irgendwas los war. In der Küche sass dann auch meine ganze Familie und hatte grosse Fragezeichen in den Augen. «Was ist denn?» fragte ich. «Haustier ist blau!» kam es wie aus einem Munde. Erst glaubte ich, mich verhört zu haben und konnte mir das nicht wirklich vorstellen, aber offenbar entsprach es der Wahrheit.

Bei den meisten Familien haben Haustiere ja einen «richtigen» Namen, aber bei uns hiess es eben «Haustier». Das kam daher, dass wir uns nicht auf einen Namen einigen konnten … seit Monaten nicht und inzwischen diskutierten wir es gar nicht mehr und mit «Haustier» wussten ja auch alle, wer gemeint war.
Und nun war es blau.

Das war damals im Oktober 2020. Ich stürmte in das Wohnzimmer, wo ich Haustier auf ihrer Decke fand. Ihr Fell leuchtete in einem kräftigen Dunkelblau, ihre Pfoten und ihre Schnauze hoben sich in einem helleren Himmelblau ab. Ich war begeistert. Aber wie würde ich das meiner Frau und den Kindern erklären? Ich hatte ihnen verschwiegen, dass ich Haustier mehrere Male ins Labor an der ETH mitgenommen hatte. Sie wussten auch nicht, woran ich seit Jahren arbeitete. Vor ein paar Wochen hatten die zwei Forscherinnen, Emmanuelle Charpentier und Jennifer A. Doudna den Nobelpreis für Chemie für ihre Entdeckung der Gen-Schere Crispr/Cas9 erhalten. Ich kannte die beiden Kolleginnen seit zehn Jahren und forschte mit ihnen an den Anwendungsmöglichkeiten des Tools zur Veränderung der DNA. Natürlich stand die Therapie von Krankheiten im Zentrum, die bisher als unheilbar galten, aber die Frage, wie die Gen-Schere auch zur Manipulation des Genmaterials verwendet werden könnte und welche Missbräuche drohten, beschäftigte uns sehr. So kam es zu einem geheimen Projekt mit Tierversuchen. Mit meinem Forschungsansatz wollte ich herausfinden, ob sich die Hautfarbe eines Tieres mit einem gezielten Eingriff in die Genstruktur verändern liesse. Das Resultat meiner Versuche lag nun also in Form des blauen Haustiers vor mir.

Nun, dreissig Jahre später, bin ich nicht mehr sicher, ob unsere Forschungen damals sinnvoll waren. Es war zu erwarten, dass die Technik bald auch am Menschen angewendet würde. Menschen aller Rassen konnten bald ihre Hautfarbe verändern und sich so aus der Diskriminierungsfalle befreien. Bald gab es nicht mehr nur Schwarze, Weisse, Gelbe, Rote oder Mischlinge, sondern auch Grüne, Blaue, Violette oder Gestreifte. Die Unterscheidung nach Hautfarbe als soziales Merkmal verschwand und der Begriff „ People of colour“ galt plötzlich für einen unüberblickbaren Teil der Weltbevölkerung. Die Rassendiskriminierung nahm ab.

Dass ich nun für den Friedensnobelpreis nominiert bin, ist mir etwas unangenehm. Man müsste doch viel eher die Organisation zur weltweiten Reglementierung und frei willigen Beschränkung der Anwendung der Gen-Schere auszeichnen, die wir Forschenden eingerichtet haben.
Wie gesagt: Heute im Jahr 2050 bin ich nicht mehr sicher, ob mein Experiment mit dem blauen Haustier sinnvoll und ethisch vertretbar war. Ich würde es nicht mehr tun.