EINE GESCHICHTE VON WOLF
Ich stehe an einer Biegung des Flusses, da, wo ich häufig und sehr gerne stehe oder mich auf einen Stein setze, da, wo der Fluss sehr breit ist und wirkt wie ein See. Eine Wolke dichten Nebels liegt über dem Wasser. Genauso, wie damals!, schiesst es mir durch den Kopf. Dasselbe, noch etwas fahle Frühmorgenlicht, ähnlich die leichte Brise, die den Nebel langsam in die tief ins Wasser hängenden Bäume am anderen Ufer treibt. Ein Reiher schwingt sich von einem Ast auf in die Luft, fliegt ein Stück flussabwärts, verschwindet dann wieder im Geäst. Ich nehme seine Richtung auf und gehe gemächlich auf dem Weg entlang des Flusses.
Bald bin ich bei der riesigen, uralten Eiche, nach der sich der Weg, leicht abfallend zu einem schmalen Pfad verengt, der mitten durch einen Schilfgürtel führt. Ich bleibe kurz stehen, erinnere mich. Hier war es, als ich diesen merkwürdigen, ebenso schrillen wie jammernden Pfeifton hörte, den ich überhaupt nicht einordnen konnte. Ein Tier konnte es nicht sein. Wer sonst? Ein Warnruf? Vor was? Für wen? Ich hatte mich umgesehen, den Weg, das Wasser in alle Richtungen mit den Augen abgesucht. Nichts. Kopfschüttelnd war ich dann weitergegangen, so, wie ich mich auch jetzt langsam wieder in Bewegung setze. Dieser Pfad ist immer feucht und voller Pfützen, und er absorbiert gerade meine ganze Aufmerksamkeit.
Aus dem Schilf heraus weitet sich der Weg wieder. So auch die Sicht, nun wieder auf den Fluss und rechterhand auf ein abgeerntetes Feld, auf dem sich zwei Störche langsam nickend fortbewegen. Die zwei sind heimisch hier. Im Frühjahr ziehen sie immer ihre Jungen auf in ihrem Horst, der gut zu erkennen ist in der Baumgruppe mitten im Feld. Leise hört man bereits das Rauschen des Wehrs, dem ich mich nähere. Hier war es doch, als ich diesen unheimlichen Pfeifton das zweite Mal hören sollte, der das Rauschen des Wehrs kurze Zeit übertönte. Und wiederum konnte ich weder Ursprung noch Urheber orten.
Der Weg führt mich am Wehr vorbei, und die Bewaldung wird wieder dichter. Schön, vor allem im Sommer, hier in den Schatten einzutauchen. Linkerhand, gegen den Fluss hin stehen Laubbäume, viele alt und sehr hoch. Auf der anderen Seite des Weges sind es hauptsächlich Nadelbäume, wovon viele wohl unter der Hitze des letzten Sommers gelitten haben. Nachdem ich die Brücke eines kleinen Zuflusses gequert habe, taucht die improvisierte Feuerstelle mit ein paar abgesägten Baumstämmen als Sitzgelegenheiten auf. Ich setzte mich kurz hin. Und dort, auf jenem Stein zwischen zwei Baumstämmen hat sie gelegen, nicht so, als hätte jemand sie verloren, sondern so, als hätte man sie ganz bewusst da hingelegt; eine Weile muss sie schon da liegen, dachte ich, so verbeult und leicht dreckig wie sie war, die Trompete. Und daneben lag, sorgsam aus der Papierhülle gezogen, das gezähnte Silberpapier aufdrapiert und wie bereit zum Verzehr, dann, vielleicht abgelenkt von irgendetwas, liegen gelassen – ein rosa Kaugummi.
Im Weitergehen erinnere ich mich, wie ich seinerzeit auch wie heute, meine Wanderung fortgesetzt hatte und nach vielleicht fünf Minuten umgekehrt war mit der Absicht, die Trompete doch mitzunehmen. Als ich zurück war stellte ich verblüfft fest: die Trompete war weg! Ebenso der rosa Kaugummi, lediglich das Silberpapier lag noch dort.