EINE GESCHICHTE VON VIKTORIA

 

Marianne erwacht und wundert sich: dichter Nebel bis ans Fenster! Und dabei ist es Sommer. Kein Wunder stand gestern in der Illustrierten, der Sommer sei bis jetzt kein richtiger Sommer und drum seien auch viele Leute nicht richtig angezogen.

Szenenwechsel: Marianne sitzt in der plüschigen Unverbindlichkeit des Foyers im Hotel Europe und wartet. Angezogen ist sie richtig. Zum Ausklang der feuchten Kühle des vergehenden Tages passt trotz eines vielversprechend blauen Abendhimmels das Kostüm. Es geht eine leichte Bise, die ihren Faltenrock – zum Glück wieder modern – beim Gehen zum Schwingen gebracht hat. Marianne ist froh, dass das „Pflaumenblaue“, die Kombination von weichem Wollcrèpe und schwerer Seide, über dem Stuhl im Schlafzimmer hängengeblieben ist, nachdem sie zu ihrem grossen Entsetzen am Saum einen hässlichen Fleck von rosa Kaugummi – wie kam denn der nur dahin? – entdeckt und kurzerhand zum Kostüm gegriffen hat.

Es ist kurz nach achtzehn Uhr. Marianne wartet bei Perrier mit Zitronenschnitz und ist plötzlich nicht mehr sicher, ob der Eintrag im Kalender richtig ist. Vielleicht sollte es heissen neunzehn Uhr? Mit jeder Minute des Wartens jedoch verschwindet ihre Nervosität mehr und mehr und Marianne beginnt, in langsamer Entspannung den Moment der Ruhe zu geniessen. Erstaunt stellt sie fest, dass sich die gewohnte ohnmächtige Hilflosigkeit des Wartens nicht einstellt, wie ihr das sonst nur zu oft passiert. Denn Warten hat Marianne trotz aller Anstrengung während langen Jahren noch nicht gelernt.

Sachlich überlegt sie hin und her, was tun, wenn der Erwartete gar nicht kommen sollte. Und mit der Sachlichkeit taucht plötzlich die Frage auf, warum sie eigentlich im Europe sitze und auf jemanden, den sie bisher nur einmal gesehen hatte, warte. Nun, überlegt sie, vielleicht wollte ich das so, auch wenn ich gar nicht weiss, was draus werden soll. Sie will dies allerdings auch gar nicht wissen.

Ihre Gedanken gehen zu ihrer Arbeit, zu ihrer Familie, zu ihrem Zuhause, zu ihrer seit langen Jahren festen Beziehung, zur Liebe. Über diese hüpfenden Gedanken schwingt als einziger weit obenaus: „Was soll ich im Europe?“ – dies in Erinnerung an den jüngst in Max Frischs Roman „Holozän“ gelesenen Satz „Was soll ich in Basel?“.

Sie beginnt, die stets und überall hin mitgeführten Arbeitsutensilien aus ihrer Tasche hervorzukramen und macht sich dran, Gedanken zum kleinen Bericht zu skizzieren, den sie am nächsten Tag abliefern will. Wenn er nicht kommt, was im Moment überhaupt nicht wichtig ist, denkt sie, dann ist wenigstens die Arbeit begonnen und das Unternehmen „Rendezvous“ zum Teil aufgefangen. Zudem gibt ihr das Sinnieren und Schreiben eine Rechtfertigung, in der fast leeren Hotelhalle sitzen zu bleiben. Wenn er nicht kommt, überlegt Marianne zwischen dem Schreiben, dann war halt „die Premiere keine Aufführung“, und das Pflaumenblaue wird sie nicht beim zweiten Mal sondern irgendwann tragen.

Die Berichtskizze ist schnell zusammengestellt und beim Blick auf die Uhr – es ist erst zwanzig nach sechs – fragt sie sich erneut, warum nur wollte ich dieses Treffen? War’s Neugierde, war’s die Faszination des Mannes, den sie kurz zuvor am Fest bei Freunden getroffen hat, der ihr in ansprechender Weise nahegerückt und ihrer Weiblichkeit geschmeichelt hat?

Plötzlich erscheint er unter der Tür, so plötzlich, dass Marianne aus ihren Gedankengängen aufschrickt und ihre feuchten Handflächen spürt. Auch er, stellt sie fest, geht in dezenter Stadtkleidung, hellgrau mit tiefblauem Seidenhemd, das volle graue Haar sichtlich frisch gewaschen. Er muss sehr eitel sein, fährt es Marianne durch den Kopf und reicht dem Nahetretenden die Hand. Sie spürt einen sachlichen und sauberen Händedruck und stört sich nur – wie schon bei der ersten Begegnung – an der kleinen Herrentasche, die er mit sich führt. Vielleicht mag er keine vollgestopften Jackentaschen, denkt sie und ärgert sich im Moment über ihr eigenen Gedanken, denn so unwichtig die Tasche ist, so sehr passt sie zu seiner ganzen Erscheinung.

Die Beiden sitzen am ledernen Lobbytisch des Hotels und suchen den Ton des leichten Gesprächs. Dies gelingt ihnen ohne Mühe, denn zwischen zwei gesprächsgewandten und der Gelegenheit und dem Wetter entsprechend gekleideten Menschen bietet Unterhaltung keine Schwierigkeit.
Viel schwieriger ist es für Marianne, das zwischen den Worten Mitgeteilte richtig zu verstehen, denn der Zauber der ersten Begegnung will sich nicht einstellen.

Spätestens als ihr Begleiter seiner Freude über ein kürzlich gefundenes Wort eines persischen Dichters „Nimm die Münze und lass die fernen Trommeln dröhnen“ Ausdruck gibt, weiss Marianne, dass sie recht bald nach Hause zurückkehren wird. Dort wartet die seit Tagen immer wieder aufgelegte CD mit Louis Armstrongs herrlicher Jazzmusik; sie liebt vor allem den Klang seiner Trompete und den Seelensong „What a Wonderfull World“. Marianne freut sich.